Theater vorm Altar

Spartanischer Luxus: »Faust« in Koserow auf Usedom

  • Jens-F. Dwars
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
Die Holzbänke drücken, die Luft ist stickig, der Kopf des Vordermanns im Wege oder, oben auf der Empore, das Geschehen nur zur Hälfte einsehbar. Und dennoch geht man nach drei Stunden beglückt hinaus, dankbar für ein Erlebnis der besonderen Art. Theater für 150 Leute, selbst die letzten Plätze keine zehn Meter von der Bühne entfernt. Geboten wird der Deutschen längstes Gedicht: Goethes »Faust«. Und das Ganze in einem Raum, der wie geschaffen scheint für dieses Wettspiel zwischen Himmel und Hölle um des Menschen dunklen Drang: die Kirche von Koserow, vor 700 Jahren aus Feldsteinen errichtet. Hier, wo der Sage nach einst das reiche Vineta in den Wellen versank und Störtebeker als Robin Hood des Nordens sich vor seinen Häschern verbarg, hier ließ Pastor Wenzel bereits in den vergangenen zwei Sommern den »Jedermann« von Hofmannsthal spielen. Ein Sünderstück mit braver Botschaft: Wer nur recht bereut, dem ist der Himmel sicher. Diesmal wagt man mehr. Bei Goethe macht der Teufel das Spiel. »Die Kirche hat einen großen Magen«, höhnt er gar. »Die Kirch allein, meine lieben Frauen, /Kann ungerechtes Gut verdauen.« Das Publikum quittiert die Ironie mit Beifall. Doch bleibt ihm das Lachen auch im Halse stecken, wenn beim Osterspaziergang ein Bettler zwischen das jauchzende Volk gerät. Wie der Obdachlose, der vor einem Jahr im benachbarten Ahlbeck erschlagen wurde. Solch Aktualität erwächst aus dem lebendigen Spiel, ohne aufgesetzt zu sein. Schon die Bühne ist so karg wie der Raum ringsum: ein Bretterboden vorm Altar, darauf später Pfosten und Leine für Gretchens weiße Wäsche, die zugleich als Wände ihrer Stube dienen. Man merkt dem Regisseur, Jürgen Kern, seine Herkunft an. Der Meisterschüler vom BE zeigt »Faust« im Lehrstückformat. Entsprechen sparsam agieren die Schauspieler, konzentriert auf wenige, aber genaue Gesten. Geworben wird vor allem mit Jürgen Zartmann in der Titelrolle. Der TV-Star aus dem Osten bemüht sich sehr um faustische Verzweiflung, doch bleibt sie leider zu weich, zu zart. Anders der oder vielmehr »die« Mephisto. Astrid Bless gibt eine großartige Teufelin, vital und voller Witz. Auch Nebenrollen sind gut besetzt, wie die forsche Frau Marthe mit Andrea Aust. Die Überraschung des Abends aber könnte das Gretchen sein: Die grazile Maria Jany spielt nicht die Naivität der ersten Liebe, sie verkörpert sie geradezu. Freilich hat dieser Vorzug auch eine Kehrseite. Das Kerkerfinale, in dem die unschuldig Schuldige ihrem vermeintlichen Befreier die Gefolgschaft verweigert und als Wahnsinnige zur eigenen Sprache findet, vermag sie noch nicht mit jener Kraft zu gestalten, die ihr Spiel erst ahnen lässt. Alles in allem: Ein wundervoller Abend, ein Luxus, den sich jeder Urlauber für 30 Mark gönnen sollte. Weiter am 3./4., 11./12., 17./18. und 31.8 sowie am 1. und 7./8.9, jeweils ab 19.30Uhr, Kartenvorbes...

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