Die Folgen des Urteils

Regierungskoalition richtet sich auf neuen Schlagabtausch ein

Die Vertreter der Regierungskoalition gaben sich alle Mühe, das Gesicht zu wahren. Ihre Sprachregelung nach dem Richterspruch in Karlsruhe: Das gescheiterte Zuwanderungsgesetz ist gut und wird deshalb im Januar unverändert erneut auf den Weg gebracht. Wer es verhindern wolle, verberge seine eigentlichen Gründe.

Haben Sie mich schon mal zornig gesehen?«, fragte Otto Schily auf der Bundespressekonferenz am Vormittag in Berlin spöttisch zurück. »Nur vom Hörensagen«, entgegnete der Journalist, der gefragt hatte, wem des Bundesinnenministers Zorn nun gelte: den Verfassungsrichtern, der Union, die das Urteil unverzüglich als Sieg feierte, oder dem Bundesrat, dessen Entscheidung über das Gesetz zu einem Laienschauspiel und dem Anlass für die Verfassungsklage geriet? Nein, Zorn wäre »Energieverschwendung«, tat Schily kund. Ruhig und gelassen sei er, und niemand könne ihn in seinem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht übertreffen. Aber niemand, so sein Rat zugleich an die Union, solle jetzt Triumphgefühlen erliegen. Denn nun entfielen all die Wohltaten für das Land: die »Bremswirkungen« für die Zuwanderung, die Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes, die aufenthaltsrechtlichen Erleichterungen für den Studienstandort Deutschland. Die alte Rechtslage besteht fort, formulierte Schily knapp. Beinahe meinte man ein wenig Schadenfreude zu hören: Es gebe auch künftighin »keine Bundeskompetenz für Integrationsförderung«. Keine Kompetenz, kein Geld, so lautete der unausgesprochene Schluss. Bedauernswertes Deutschland - für die Zuwanderung seiner Sozialsysteme freigegeben, wenn man Schily glaubt. Die nichtdeutschen Familienangehörigen von Spätaussiedlern dürften nun weiter ohne deutsche Sprachkenntnisse einreisen - immerhin 55000 der insgesamt 100000 Aussiedler pro Jahr, malte Schily genüsslich aus. »Straffung und Beschleunigung« der Asylverfahren, wie sie das Gesetz vorsah - nichts da. Und da die geplante Umsetzung dreier EU-Richtlinien nicht erfolgen könne, erhebe sich die Frage, wie Deutschland nun einer Vertragsverletzung entgehen könne. Die Grünen schickten voller böser Vorahnung dem Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat schon mal voraus, wesentliche Punkte des Gesetzes wie ein modernes Ausländerrecht und der humanitäre Flüchtlingsschutz seien nicht verhandelbar. Vorsitzende Angelika Beer und Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt kündigten an, ein Diktat der Union in den Verhandlungen werde man nicht akzeptieren. Doch diese wird sich kaum mit einigen kleinen Retuschen begnügen, wie erste Reaktionen zeigten. Hessens Ministerpräsident Roland Koch bemerkte mit einem triumphierenden Rückblick auf seine Rolle in der schicksalhaften Entscheidung im Bundesrat am 22.März, die Verhältnisse dort hätten sich seither geändert. Nach dem Regierungswechsel in Sachsen-Anhalt gebe es eine klare »Kontroll-Mehrheit« der Union. Ein neues Gesetz müsse die Zuwanderung in unsere Sozialsysteme beenden. Fraktionschefin Angela Merkel (CDU) ergänzte: Es werde in Zukunft nicht mehr gehen, dass man »Mehrheiten vortäuscht, die man nicht hat«. Zugleich zeichnete Merkel die tieferen Spuren nach, die der Karlsruher Spruch am Mittwoch hinterlassen hat. Es handele sich um einen »schwarzen Tag für den Verfassungsminister und einen schwarzen Tag für den Bundeskanzler«. In der Tat: Schilys Gelassenheit spricht für erstaunliche Kaltblütigkeit. Der Regierungskoalition schwimmen die Felle weg und Merkel schickte einen Schwall kaltes Wasser nach: Die Steuerreform mit ungewissem Ausgang verschoben, das 630-Mark-Gesetz revidiert, Riesters Jahrhundert-Rentenreform am Krückstock, nun also das Zuwanderungsgesetz gescheitert. Schon bald werde sich überdies zeigen, dass Rot und Grün hier gespalten seien. Wenn Beer also vorsichtig hoffte, die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat könnten sich mit den Landtagswahlen am 2.Februar in Hessen und Niedersachsen noch zu den eigenen Gunsten verändern, so ähnelte das schon dem bekannten Pfeifen im Walde. Anderenfalls hat das Gesetz keine Chance, den Winter in seiner bisherigen Form zu überdauern. So wie alle künftigen zustimmungspflichtigen Gesetze nicht. Und der bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) orakelte, es sei »kein großes Problem«, sich mit Schily zu einigen, mit den Grünen werde es aber Probleme geben. Ähnlich hatte sich auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) geäußert, der für die Union eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen über das Gesetz gespielt hatte. Denn das nun abgelehnte Gesetz trägt Formulierungen der Union in Mengen. Was nun folgen wird, ist vage abzusehen. DGB-Chef Michael Sommer konstatierte: »Nicht die Union hat mit ...

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