Die Leere und die Fantasie

Antje Rávic Strubel: »Fremd Gehen. Ein Nachtstück«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Was ist das für ein Buch, das Sie da lesen?«, will die blonde Krankenschwester wissen: »Fremd gehen...?« - »Jedenfalls kein Eheroman«, sage ich. »Hab ich auch nicht gedacht«, gibt sie zurück, »es sind schließlich zwei Wörter "Fremd" und "Gehen". Aber warum Nachtstück?« - »Damit ist wohl eine Stimmung gemeint«, versuche ich zu erklären, »düster, träumerisch. Das Buch handelt in Berlin von Menschen, die alleine sind « Da sehe ich ihr an: Das interessiert sie nicht, obwohl sie offensichtlich Bücher mag. Sie wechselt das Thema, fragt, was ich von Elisabeth George halte, stimmt mir zu, dass sie routinierte Unterhaltungsromane schreibt. Jetzt will sie alles von Henning Mankell lesen. Krimis findet sie gut. Ich hätte sagen können, dass dieser Roman ein Krimi ist: Auf Seite 17 - weiter bin ich in diesem Moment noch nicht - sind Polizeiwagen an der Kreuzberger Admiralsbrücke aufgefahren. Daniel Stillmann, Student der Mathematik im siebenten Semester, liest in der taz von einem Mord, einer Leiche, die in eine Schiffsschraube geraten war. Und da er mehr als nur eins und eins zusammenzählen kann, stellt sich ihm die Verbindung her zu dem alten Mann, der in der vergangenen Nacht an der Uferböschung stand und zu Daniels Fenster hochblickte - mit einem so präzisen Blick, dass er Angst bekam. Von den ersten Sätzen an hat man gemerkt, wie kunstvoll präzise Antje Rávic Strubel mit Sprache umzugehen versteht, später wird man staunen, wie sich dieser wache Blick auf Einzelheiten mit dem albtraumhaften Zustand verträgt, in dem sich alle vier Hauptgestalten des Romans befinden. Außer dem alten Mann und Daniel, der das Haarband seiner Freundin Kathleen ums Handgelenk trägt, gibt es da noch zwei Frauen: Marlies, die aus dem Osten stammt und immer wieder an die falschen Männer gerät, und die Ich-Erzählerin, die sich in ihren Sehnsüchten nach Marlies verzehrt und uns irgendwann mitteilt, Marlies sei tot. Ist Marlies das Opfer, ist es Kathleen oder ganz jemand anders? Die Polizisten - Beamte und keine Detektive - erledigen ihre Routinepflichten und verschwinden. Die Hitchcock-Stimmung flackert immer mal wieder auf, um den Leser in Spannung zu halten. Aber man spürt es von Anfang an: Dies ist kein Krimi, auch wenn bewährte Motive des Genres gekonnt eingesetzt sind. Die Illusion vom Sieg der Ordnung, von der ein Krimi lebt, dieses Licht am Ende des Tunnels gibt es hier nicht. Das Dunkel wird undurchdringlich bleiben bis zum Schluss. Insofern: Nachtstück. Und auch weil die Ich-Erzählerin, während sie die Geschichte schreibt, immer wieder stundenlang Chopins Nocturne Opus 9, Nr. 1 b-moll hört. »Es ist die Geschichte, die immer noch Gestalt annimmt, auch wenn ich wegsehe, auch wenn der Bildschirm verschwimmt und die Details meiner Wohnung aus dem Blickfeld geraten.« Mit Marlies zusammen hatte sie sich das alles ausgedacht: Daniels Angst und den Blick des Alten, der in der DDR bei der Seepolizei war und eine schreckliche Schuld auf sich geladen hatte. Von Daniel hatten sie beide verschiedene Vorstellungen gehabt. Aber das ist nur die eine Seite des Spiegels. Denn andererseits kann Daniel - real oder Kunstfigur - sich seinerseits sein Bild von Marlies machen, und der Alte kann dem Jungen hinterherlaufen, die unerfüllte Liebe der Ich-Erzählerin auf sich nehmen. »Es ist so geheimnisvoll, wie alles, was leer ist.« Ein Schlüsselsatz. Antje Strubel, 1974 geboren, in Ludwigsfelde aufgewachsen, war 15, als die Mauer fiel, sie machte eine Buchhandelslehre in Steglitz, studierte Amerikanistik und Literaturwissenschaft, arbeitete als Beleuchterin an einem Off-Theater in New York. Den Kunstnamen Rávic legte sie sich zu, um die Distanz zwischen sich als Schreibender und ihrem Alltags-Ich zu betonen. »Eine zweite Existenz, vom realen Leben getrennt«, nannte sie es einmal in einem Gespräch. Dasein in der Sprache: »Ein Satz, manchmal nur ein Klang, ruft einen anderen hervor, und wenn die Worte funktionieren, kann ich so einen Dialog hinterher eventuell mit einer Geschichte umgeben.« Bisher hat es in ihren Büchern immer eine Frauengestalt gegeben, die aus der DDR stammt. In ihrem von der Kritik bejubelten Debüt »Offene Blende« war es Christiane, die sich in New York als Amerikanerin ausgibt und sich in eine westdeutsche Fotografin verliebt. Im Episodenroman »Unter Schnee« leben zwei Frauen aus Ost und West während eines Skiurlaubs in Harrachov ihre feinen Wahrnehmungsunterschiede aus. Auch jene Geschichte ähnelte einem Puzzle, das sich der Leser selbst zusammensetzen musste. Hier nun ist es Marlies, die an ihre Wohnungstür das Schild »Wuy wyuesschajete is amerikanskowo Sektora« angebracht hat (komische Transkription des Verlags). »Das Prinzip Freiheit, sagte sie, als wir das Treppenhaus betraten, darauf käme es eben an, auch wenn es nur in geschlossenen Räumen denkbar wäre.« Freiheit und Fremdheit. - »Da unten«, denkt Daniel, während er sich in seinem Zimmer im vierten Stock in eine mathematische Formel vertieft, »da unten waren sie ausgerüstet mit Handys, Freizeitanzügen und hochhackigen Erkenntnissen über die Geschlechter, Börsendaten, Speicherkapazitäten und die schnellsten Flugverbindungen zwischen den Kontinenten, und doch wurden sie davon langsam ausgewaschen. Zurück blieben nicht mehr voneinander unterscheidbare Formen, deren Inneres eine ungeschützte Hohlheit ausmacht, die auch in ihn sofort eingezogen war, als er an einer der neuen, nackten Telefonstelen versucht hatte, Kathleen zu erreichen.« Jeder eingeschlossen, weggeschlossen - in einem Raum ohne Fenster, »mit einem Holzpferdchen, vor und zurück, und trotzdem halten sie sich für unabhängig, einigermaßen unabhängig und aufmüpfig und frei« Marlies, meint Daniel, habe das durchschaut. Hat sie so nicht mehr leben können? Die Frage macht es zu einfach. Ist das Buch aus der Trauer über den Verlust der geliebten Freundin gewachsen? »Eines Tages«, so die Ich-Erzählerin, die keinesfalls mit der Autorin verwechselt sein will, »eines Tages versammelt sich alles, was man gegen die Welt an Phantasie aufbringt, in einem einzigen Menschen, und dann lebt man besser von der Ferne zu ihm.«
Antje Rávic Strubel: Fremd Gehen. Ein Nachtstück. Marebuchverlag. 190 Seiten, gebunden, 18 EUR.   Hier können Sie diesen Titel beim ND-Bücherservice bestellen
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