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  • VERA WOLLENBERGER, Mitglied des Deutschen Bundestages:

Fünf Minuten nach Zwölf

  • Lesedauer: 4 Min.

Vor einem Jahr, als die neostalinistischen Regime in Osteuropa zusammenbrachen, wurde dies als Sternstunde des Systems der freien, sozialen Marktwirtschaft gefeiert. Nur zwölf Monate später wird ein Krieg angezettelt, der der Anfang vom Ende der freien, sozialen Marktwirtschaft sein könnte. Nur im Unterschied zum beinahe gewaltlosen Zusammenbruch des Systems in Osteuropa wird der Zusammenbruch des westlichen Systems unzählige Opfer fordern und könnte katastrophale Folgen für die ganze Welt haben. Der Krieg am Golf ist das blutige Finale des Alten Denkens. Wir erleben die schaurige Wiedergeburt des Wunderglaubens an die Allmacht des Militärischen, die wir nach dem Zerbröckeln der Ost- West-Konfrontation für so gut wie überwunden hielten.

Die Abschreckungsdoktrin spielt im Nahost-Konflikt eine zentrale Rolle. Gleichzeitig offenbart sich ihre ganze Fehlerhaftigkeit, die in den vergangenen 40 Jahren durch die unkriegerisch gebliebene Ost-West-Konfrontation verdeckt wurde. Ein zu allem entschlossener Diktator soll mit militärischen Mitteln zur Räson gebracht werden. Dabei wurde offensichtlich nicht ernst genommen, welche Abschreckungsmittel der Diktator selbst in der Hand hat:

1. Existenzbedrohung für ganz Israel

2. Terroranschläge auf der ganzen Welt

3. Unterbindung der Ölzufuhr aus Nahost

4. eine globale Umweltkatastrophe durch den Brand der Erdölfelder.

Schon in der zweiten Kriegsnacht stellte Hussein klar, daß er seine Drohungen wahrzumachen gedenkt. Nachdem die Amerikaner bereits voreilig verkündet hatten, daß alle irakischen Mittelstreckenraketen zerstört wären, folgte der erste irakische Angriff auf Israel. Damit ist bereis ein Automatismus in Gang gesetzt worden, der zu einem Atomkrieg führen könnte. Nach dem Angriff hat Israel seine Haltung bekräftigt, sich mit eigenen Mitteln wehren zu wollen. Die Erinnerung an den Holocaust des jüdischen Volkes in den Gaskammern des Dritten Reiches setzt die psychische Barriere, einen Atomschlag zu führen, drastisch herab. Das bringt die anderen Atommächte in die prekäre Lage, die Entscheidung über einen möglichen

eigenen Kernwaffeneinsatz nicht mehr in der Hand zu haben.

Was sich hier ankündigt, ist die schockierend einfache Fortsetzung jener militärischen Konzeption, die mit dem Angriff auf Hiroshima und Nagasaki die Welt mit einem brutalen Tritt ins Atomzeitalter beförderte und sie jetzt in den Abgrund stoßen kann.

Selbst wenn es zu dieser schrecklichen Konsequenz nicht kommen würde, müßte allein die Drohung, im Ernstfall absichtlich den Ölstrom aus dem Nahen Osten längerfristig zum Versiegen zu bringen, jedem Politiker der vom Nahost-Öl abhängigen Industriestaaten einen Schauer über den Rücken jagen.

Durch das sorglose, in riesigen Mengen zu Niedrigpreisen geförderte öl wurde die Entwicklung und Anwendung von alternativen und regenerativen Energien verhindert und auf Jahrzehnte hinausgeschoben. Damit hängt die Industriegesellschaft für eine Übergangszeit weiterhin am Öltropf. Wenn die Ölzufuhr versiegt, kommt es früher oder später zum ökonomischen Kollaps der Industriegesellschaft. Als wäre das noch nicht genug, ist das größte Abschreckungsmittel, das Saddam Hussein in der Hand hat, die Androhung einer möglichen globalen Umweltkatastrophe. Brennende Ölquellen in und um Kuweit könnten sich als bisher größter menschlicher Eingriff in die Atmosphäre entwickeln. Kuweit, das ja angeblich befreit werden soll, müßte dann aus der ökologischen Weltkarte gestrichen werden. Über Hunderten brennenden Ölfeldern, die nicht innerhalb ei-

niger Monate gelöscht werden könnten, selbst wenn die Kampfhandlungen wider Erwarten rasch beendet sein sollten, würden sich Rauchmengen entwickeln, die denen entsprächen, die bei einem großen Atomkrieg entstehen könnten. Es besteht die Gefahr, daß die großen Biotope der Erde in ihrer heutigen Form nicht überleben könnten. Außerhalb der Konfliktregion könnten wesentlich mehr Menschen an den indirekten Folgen des Golfkrieges sterben als durch die Kampfhandlungen selbst.

Es hat genug Stimmen gegeben, die eindringlich und ernst vor den Folgen dieses Krieges für die Welt gewarnt haben. Keine davon ist offensichtlich bei den Entscheidungen der Politiker berücksichtigt worden. Das Versagen der Politiker aller an der Weltpolitik beteiligten Nationen hat die Welt mit dem Golfkrieg in eine blutige Sackgasse geführt.

Welche Chancen gibt es noch angesichts der sich entwickelnden Katastrophe?

Vor einem Jahr haben wir erlebt, wie scheinbarfestgefügte Diktaturen innerhalb weniger Wochen wie Kartenhäuser zusammenbrachen, weil ihnen massenhaft die Akzeptanz entzogen wurde.

Wir brauchen jetzt etwas Ähnliches: Dem Golfkrieg muß massenhaft die Akzeptanz entzogen werden. Wir brauchen eine Bürgerbewegung gegen das Außen- und Sicherheitsmonopol der Regierungen. Bei Strafe unseres Unterganges dürfen wir den Politikern die Entscheidung über Krieg und Frieden nicht länger überlassen.

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