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Späte Erkenntnis macht keinen Toten lebendig

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Ich behaupte, schon in kurzer Zeit werden sehr viele sagen, was nun geschieht, hätten sie nicht gewollt. Derlei späte Erkenntis wird keinen Toten lebendig machen, heilt keine Wunden, lindert keinen Schmerz. Hat Mangel an Phantasie die Politik sich derart festfahren lassen in tödlicher Sackgasse?

Man müsse dem Diktator von Bagdad Einhalt gebieten... Ich bin sehr einverstanden, nur: war das mit dem Aufmarsch der amerikanischen und alliierten Truppen nicht längst geschehen? Seit vielen Wochen war Saddam in seinen Gelüsten total eingeschränkt, hatte keine Handlungsfreiheit mehr. Hätte man's damit nicht fürs erste bewenden lassen und die Wirkung der Sanktionen abwarten sollen: um dann einem schwächeren Irak die Freigabe Kuweits abzuzwingen? Weitere Wochen der Stationierung von Truppen in der saudischen Wüste wären sehr teuer geworden?

Teuerer als Tausende, Hunderttausende Menschenleben?

Indem ich das schreibe, hör ich mit halbem Ohr den Berliner Börsenbericht: Die Stimmung sei euphorisch. Die Reporter reden im Tonfall von Sportberichtern, die Zeugen bravouröser Rekorde sind... Soll ich zu einer Zeit, da Marxplätze und Engelsstraßen umbenannt werden, an die Hinweise der beiden auf die Zusammenhänge von Krieg und Frieden erinnern? Ich kann schlecht verdrängen, was ich weiß.

Dazu gehört freilich auch dies: daß die labilen politischen und Staatsbefinülichkeiten in der arabischen Welt als Folge „abendländischer“ Kolonialpolitik gewiß nicht abermals nach Regelung durch „den Westen“ schreien. Die Menschen dort sind wenig gefragt, es sei denn, man legt ihnen die Fragen samt den gewünschten Antworten in den Mund, wie's verläßlichen Berichten zufolge in dem Vielstundengespräch zwischen Amerikas Verteidigungsminister Cheney und dem saudischen König Fahd geschah, um den zu veranlassen, die Stationierung der GIs zu erbitten.

Daß die Entrüstung Washingtons ob der - fraglos völkerrechtswidrigen - Annektion Kuweits nicht sehr ernst zu nehmen ist, weiß man spätestens seit Grenada und Panama. Frühere Beispiele müssen nicht herangezogen werden. Daß die andere Eben-noch-Großmacht Moskau, siehe allein Afghanistan, nicht die Spur besser und mit ihren Thesen vom antiimperialistischen Kampf auf andre Art genauso ver-

heuchelt war,sollte die Durchsichtigkeit der amerikanischen Interessen nicht verschleiern.

Das Öl im Golf gehört den Arabern. Wer das bestreitet, hat die Sympathien einiger europäischer und US-Konzerne. Ein Krieg um wirtschaftliche Interessen? Hatten wir nicht geglaubt, am Ende unsres Jahrhunderts würde's derlei nicht mehr geben? (Aber die Börse ist euphorisch.) Wie sieht's aus im Herzen der Politiker, Publizisten, Kommentatoren, die den Massen immer weiter verlogene Phrasen vom Völkerrecht vorbeten? Was taugen ihre Salbadereien morgen: vor dem Aschenhaufen dieses Kriegs?

Oh ja, ich weiß nur zu gut, mit was für vergiftetem Wasser auch auf der andern Seite gekocht wird. Husseins brutaler Menschenverachtung sind nicht wenige meiner irakischen Kollegen zum Opfer gefallen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ? meine palästinensischen Freunde,^wenn sie je einen eignen Staat haben werden, ihn auch nur annähernd so wollen wie das Regime zwischen Mossul und Basra. Es ist nur die „moderne“ Variante zu den halbmittelalterlichen Zuständen in den Ländern am Golf. Hussein kann den arabischen Massen keine Freiheit bringen, und daß er ihnen die Würde wiedergäbe, ist auch nur eine Schimäre. Seine Behauptung, sich für ein freies Palästina einzusetzen, ist so wenig wert wie gleichlautende Tiraden andrer arabischer Regierungschefs: ihnen ging's, wie gern sie die palästinensische Karte ausspielten, stets nur um die eigne und oft genug mißbrauchte Macht.

Damit sage ich nicht, da wäre keine Beziehung zwischen dem, was zur Golf-Explosion führte und dem Palästina-Problem (oder dem libanesischen, dem kurdischen...). Es hat alles seine Wurzeln in der kolonialistischen Hinterlassenschaft, und vielfältige Interessen sorgten dafür, daß die nicht zum Absterben kamen. Eine Lösung aber bringen Husseins Grotzkotzigkeiten so wenig wie amerikanische John-Wayne-Allüren.

Bushs Kriegsziel ist erklärterma-ßen auch die Zerstörung des irakischen Militärpotentials. (Wozu sich in gemütlich schwäbischem Idiom jüngst auch Herr Stücklen bekannte, weil ja die neudeutsche Stimme nicht fehlen darf bei den Vorschlägen zur Neuordnung der Welt.) Ich bin weiß der Himmel kein Freund von der Anhäufung massenmörderischer Instrumente, nur: Wer gibt den Leuten in Washington die moralische und völkerrechtliche Legitimation, über das Kriegszeug andrer, in dem Fall arabischer Länder zu befinden? Arkansas ist davon so wenig bedroht wie Maine, und über die Sicherheit Israels zu verhandeln hat man dort bislang so wenig Neigung gezeigt wie über die Rechte der Palästinenser.

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