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Die Wirklichkeit hat den Kanzler eingeholt

Nun ist die Zeit der Verheißungen und Absichtsbekundungen vorbei. Die Regierung ist gebildet, der Kanzler hat sich dem Bundestag erklärt. Es wird wieder Klartext gesprochen. Helmut Kohl tat es am Mittwoch im Bonner Wasserwerk mit Lyrik und Prosa. Lyrik, weil er den schon in Umlauf gesetzten Umschreibungen für den schlichten Tatbestand der Beutelschneiderei („Gebührenerhöhung“, „Zusatzabgabe“) weitere hinzufügte: Von erforderlichen „Einnahmeverbesserungen des Staates“ sprach er und vom „Beitrag der Solidargemeinschaft“ dafür. Und Prosa, weil der Kanzler aller Deutschen auch schon mal ganz unverblümt sagte, was er meint: Die Bundesregierung werde Vorschläge für die „notwendigen Steuererhöhungen“ vorlegen.

Wer hat nun eigentlich wen eingeholt? Der Kanzler die Wirklichkeit oder die Wirklichkeit den Kanzler? Er wird wohl inzwischen niemandem mehr weismachen können, daß er seine Versprechungen im Wahlkampf, die deutsche Einheit werde den Steuerzahler nichts zusätzlich kosten, tatsächlich ernst gemeint hat. Von vielen vorausgesagt, begann die Suche der alten und neuen Koalition nach neuen Geldquellen wohl nicht erst mit der Schließung der Wahllokale am 2. Dezember. Die Opposition, die

schon lange vorausgesagt hatte, daß die Einheit nicht zum Nulltarif zu haben sei, quittierte Kohls Steuerbekenntnis in seiner Regierungserklärung mit einem bitteren Lachen. Worauf dem Kanzler nichts besseres einfiel als die Frage: „Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, was sie dabei erheitert.“

Nein, sonderlich heiter werden die Zeiten vermutlich wirklich nicht. Es sei denn, man zahlt gern immer mehr für den Krieg am Golf, man ist glücklich, wenn sich die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhöhen, man akzeptiert es, sich von Kohl als Anhänger einer lautstarken, verwerflich handelnden Minderheit beschimpfen zu lassen, weil man sich für Frieden engagiert. Statt alle Kraft für die Lösung der inneren Probleme des Landes einzusetzen, verpulvert die Regierung täglich weitere Millionen für einen Krieg, in dem Deutsche nicht das Geringste zu suchen haben. Es zeuge höchstens von einem schlechten Gewissen, so Gerd Poppe (Bündnis 90/Grüne), wenn die Koalition, nachdem sie illegale Rüstungsexporte deutscher Firmen hatte eingestehen müssen, nun dem angegriffenen Land – Israel – Abwehrwaffen zur Verfügung stellt. Als Konsequenz bleibe nur, solche Exporte generell zu unterbinden. Noch deutlicher formulierte es gegenüber ND der PDS-Abgeordnete Ulrich Briefs: Er verlangte,

der Profitmacherei deutscher Unternehmen, die sie durch völkermordende Waffenexporte betreiben, ein Ende zu bereiten.

Diesen Vorwurf läßt sich die Koalition jedoch ebensowenig gefallen wie den, im Osten des Landes marktwirtschaftlichen Wildwuchs zuzulassen und zu wenig gegen die Gefahr zu tun, daß die Ex-DDR zum Hinterhof der Bundesrepublik wird. Schon lange machen Politiker – auch der Union – auf die katastrophale Finanzlage in den neuen Bundesländern aufmerksam, und man sollte meinen, Helmut Kohl sei sich dieses neuralgischen Punktes bewußt. Denn davon, wie die von ihm gern erwähnte Angleichung der Lebensverhältnisse gelingt, kann maßgeblich seine politische Zukunft abhängen. In der Regierungserklärung dazu jedoch nichts. Neues. Stattdessen hörte man den sattsam bekannten Appell an die alten Bundesländer, etwas vom eigenen Wohlstand abzugeben. Die von Kohl vorgeschlagenen 15 Milliarden Mark für Investitionskredite sind nach Ansicht von Oppositionsvertretern nur ein Tropfen auf den heißen Stein, solange sie nicht durch entscheidende Kürzungen beispielsweise im Verteidigungsetat aufgestockt werden.

Der Kanzler indessen übte sich in seiner Erklärung vor dem Bundestag in anderen Kunststücken.

So brachte er es fertig, die Deutschen im Westen vor Selbstgerechtigkeit gegenüber den östlichen Landsleuten zu warnen, nachdem er unmittelbar zuvor eine seiner Lieblingsformeln benutzt hatte – die von den Deutschen, die „das Glück hatten, 40 Jahre auf der Sonnenseite zu leben“. Auf eine weitere Kostprobe seiner Regierungskunst kam er am Mittwoch nicht zu sprechen, sie läßt sich aber in der Koalitionsvereinbarung nachlesen. Da nämlich steht, und zwar als erste Bemerkung zum Thema Arbeitslosigkeit überhaupt, daß eine Arbeitsgruppe den „Mißbrauch bestehender Hilfen und Vergünstigungen durch eine nicht ausreichend an Arbeit interessierte Minderheit“ bekämpfen soll. Womit man nicht fertig wird, das kriminalisiert man – eine ebenso alte wie unbrauchbare Methode hilfloser Staatsmänner.

Am Mittwoch waren im Bonner Regierungsviertel die Fahnen auf Halbmast gesetzt. Es war nicht ganz einfach, den Grund zu erfahren: Man gedachte auf diese Weise des verstorbenen und an diesem Tage beigesetzten norwegischen Königs. Spötter hingegen mutmaßten, die Trauergeste habe mit der Regierungserklärung Helmut Kohls zu tun. Feststehen dürfte immerhin, daß die kommende Zeit für nicht wenige alles andere als erheiternd werden wird.

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