nd-aktuell.de / 28.03.1992 / Kommentare / Seite 10

Wendehälse West

Nicht übertrieben ist es zu sagen, daß in den letzten beiden Jahren jede Menge Leute, die zuweilen jahrzehntelang publizistisch in den alten Bundesländern die Fahne einer radikaldemokratischen und auch marxistischen Kritik hochgehalten haben, inzwischen an den Nierentischen der etablierten Macht des siegreichen High-Tech-Kapitals Platz nehmen, abschwören und sich in Bußritualen üben.

Reumütige Linke verdingen sich bei den alt-neuen Herren. Ihnen überlassen sie ihre Abrechnungen und marktfrommen Bekenntnisse zur propagandistischen Bemäntelung der letzten Errungenschaften des schönen neuen High-Tech-Kapitals: Der Hölle am Golf, des lautlosen Massensterbens in den Slums von Sao Paulo, Nairobi und Bangkok, der frischgebackenen Marktwirtschaftsfreiheit des Ostens als freier Fall in die Verelendung. Nicht, weil es den Kapitalismus und die von ihm verursachten ungeheuerlichen Zerstörungen an der Natur der Menschen und ebenso an der äußeren Natur nicht mehr gibt, ersetzen sie ihre früher kritische Position durch Lobgesänge auf die marktwirtschaftliche Demokratie. Nein, gerade weil seine entfesselte Zerstörungskraft sich befreit hat von reformerischen Rücksichten und von „realsozialistischen“ Konkurrenzmaßstäben - gerade darum singen einige nicht gerade unbedeutende Sprachrohre der westdeutschen Linken (was das auch sein mag) das Lob des Kapitalismus, einschließlich seiner Kriege. Die gedankliche Grundfigur dieser ideologischen Wendehälse West von denen wohl am bekanntesten der Enzensberger geworden ist mit seiner Golfkriegsrechtfertigung in der Bild-Zeitung für Möchtegern-Intellektuelle - ist höchst einfach:

Anstelle einer selbstkritischen, ins nötige Detail gehenden Weiterentwicklung der Marxschen Theorie und des ja vorhandenen sehr gedankenreichen und differenzierten westlichen Marxismus - insbesondere der unverzichtbaren Kritik der Politischen Ökonomie schmeißen sie alles in den Mülleimer zugunsten eines verworrenen Kauderwelsch und eitler Geschwätzigkeit. Die macht sich an ideologisch die Realität verklebenden Formeln fest wie: „neue Unübersichtlichkeit der Moderne“, „demokratische Marktwirtschaft“ oder „zivilisatorische Potenzen des Kapitalismus“. Sogar der an sich brauchbare Begriff „Zivilgesellschaft“, von Antonio Gramsci geprägt, verkommt dabei inflationär zur ideologischen Phrase, die verdeckt, daß es - nach-einem Wort von Herbert Marcuse - auf der ganzen Welt nirgendwo Freiheit gibt, sondern nur unterschiedliche Grade von Unfreiheit.

Die Furcht vor der Revolution hatte schon die Ebert, Scheidemann, Noske letzten Endes zum Terror gegen die Vorkämpfer für eine deutsche Räterepublik gebracht - Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und die vielen Namenlosen, denen der „Bluthund“ an den Hals gesprungen war. Neugroßdeutsch führt sie nun auch einigen Ex-Linken die Sprache und die Feder. Diese Furcht vor der Revolution ist eine Gestalt der von Erich Fromm denunzierten Furcht vor der Freiheit. Die Käseglocke des sich derzeit als ewig präsentierenden Weltkapitalismus, der gefälligst Marktwirtschaft zu nennen ist, soll individuelles Fortkommen eine geringe Chance haben, ist die aktuelle sozial-ökologische Katastrophe, der sich das postmoderne Spießertum willfährig erweist.

HELMUT THIELEN