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  • Politik
  • RAF-Gefangene fordern breite gesellschaftliche Diskusssion um neue Ansätze linker Politik

,Die kommende Ära wird die Ära sozialer Bewegungen

  • IVO BOZIC
  • Lesedauer: 5 Min.

Schon im Herbst 1989, als die RAF den Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen in die Luft sprengte, war in ihrem Bekennerschreiben von einem „neuen Abschnitt“ die Rede, vor dem „die gesamte revolutionäre Bewegung in Westeuropa“ stehe. Damals kündigte die RAF einen parallelen Prozeß an, einerseits die Angriffe fortzusetzen und andererseits eine Diskussion voranzubringen, deren Ziel eine Neuorientierung der linken Politik sein sollte, angesichts der veränderten globalen Situation.

Daß dieser Prozeß gescheitert ist, hat die RAF in ihrer Erklärung vom 10. April dieses Jahres zugegeben, als sie die Einstellung des bewaffneten Kampfes bekannt gab. Nun wolle sie die Eskalation zurücknehmen „um den Raum aufzumachen“ für die „seit langem notwendigen Diskussionen“ Der Glaube, daß „die“ Linke deshalb eine bessere Ausgangsbasis für eine Neubestimmung habe, weil die RAF ihre Angriffe zurücknimmt, geht an der Realität allerdings vorbei. Zu isoliert ist die RAF in fast allen politischen Spektren.

In einer Hinsicht jedoch ist wirklich ein Raum aufgemacht worden. Seit der „Feuerpausen-Erklärung“ dürfen sich bestimmte RAF-Ge-

fangene in aller Öffentlichkeit ohne zuvor abgeschworen zu haben - zu ihren Haftbedingungen, zur Geschichte und Perspektive des bewaffneten Kampfes äußern. Und von dieser neuen Möglichkeit machen sie rege Gebrauch. Plötzlich kann der/die Fernsehzuschauerin seit über 20 Jahren einsitzende ehemalige RAF-Aktivistlnnen sehen und sie sprechen hören. Im „Spiegel“, in „Konkret“ nehmen politische Gefangene Stellung zu ihrer Geschichte und zu Möglichkeiten linker Politik. Wo früher nur uralte Fahndungsfotos vom Bildschirm und aus Zeitungen prangten, können wir plötzlich authentische Bilder von Menschen sehen, die jetzt nicht mehr durchweg „Terroristen“ genannt werden, sondern „Gefangene“ -und zuweilen selbst von staatlicher Seite „politische Gefangene“.

An dem, was die Gefangenen sagen, ist sichtbar, daß die Zeit für sie nicht mit ihrer Festnahme stehen geblieben ist. Sie nehmen Bezug auf die neuen Ausgangsbedingungen. Ex-RAFler Lutz Taufer erklärte in dem „Konkref'-Interview, an dem neben Taufer „Konkret“-Chef Gremliza, der Ex-Grüne Thomas Ebermann, Rosita Timm und die Gefangenen

Karl-Heinz Dellwo und Knut Folkerts teilnahmen, daß die kommende Ära die Ära der sozialen Bewegungen sein werde, „der ökonomischen und sozialen Erfindungen“ „Von dieser veränderten Weltlage spricht die Erklärung der RAF Es ist keine Kapitulation, es ist die konsequente Neuorientierung auf eine Situation, zu der die bewaffnete Aktion querliegt.“ So zersplittert wie die Linke sei, müsse gemeinsam riach Antworten gesucht werden. Mit fertigen Konzepten warten in dieser Situation weder die RAF noch ihre Gefangenen auf. Daß eine breite gesellschaftliche Diskussion für die Gefangenen bisher unmöglich war, lag in erster Linie an den Haftbedingungen, die von Isolation, Besuchsverboten, Kontaktsperren, Zensur geprägt waren und für die meisten auch immer noch sind. So wurden „normale“ Gefangene, die beim Hof gang engeren Kontakt zu politischen hatten, zwangsverlegt, oder es wurde der gemeinsame Hofgang untersagt. Manchen Gefangenen wurden Briefmarken weggenommen, um ihren Briefverkehr einzuschränken, anderen verbot die Gefängnisleitung, Briefe in ausländischer Sprache zu schreiben. Briefe und vor allem Zeitschriften wur-

den und werden angehalten oder zensiert. Interviews mit Medien waren bisher verboten.

Die Bedingungen für die Gefangenen sind je nach Gefängnis unterschiedlich. Ein Ziel war jedoch immer gleich: Die Identität der Häftlinge zu brechen und ihnen jede Möglichkeit der Diskussion und des Austausches zu nehmen. Auf die vielen Hungerstreiks für die Zusammenlegung reagierte der Staat unerbittlich und nahm selbst Tote in Kauf.

Daß Verfassungsschützer und Justizminister nun die angeblich „weiche“ Welle fahren, hat sicher nichts mit Liberalisierung und Versöhnung zu tun, auch wenn Kinkel dieses Wort so gerne benutzte. Zum einen hat der Verfassungsschutz bei der Fahndung völlig versagt. Der letzte Fahndungserfolg in Sachen RAF liegt sechs Jahre zurück. Zum anderen mußten die Staatsschützer einsehen, daß über die Haftbedingungen immer wieder Menschen zur Opposition kommen. In Anbetracht der desolaten Situation, in der sich die Linke befindet, schien es den Justizbehörden jetzt möglich, die öffentliche Diskussion zuzulassen und die Freilassung einzelner Gefangener anzukündigen, bezie-

hungsweise umzusetzen, wie bei Günter Sonnenberg geschehen. Daß auch Wirtschaftsbosse die Politiker zu Lösungen drängen, ist kein Geheimnis. Klar, daß sie „einmal wieder ohne Leibwächter mit ihrem Fiffi Gassi gehen“ wollen, wie es Gremliza ausdrückt.

Die politischen Gefangenen verlangen allerdings mehr. Sie wollen endlich miteinander reden können, zur Diskussion kommen. Die sofortige Zusammenlegung ist eine ihrer Forderungen, die umgehende Freilassung der haftunfähigen und der am längsten einsitzenden Gefangenen eine weitere. Letztlich fordern sie jedoch die Freilassung aller politischen Gefangenen ohne inquisitorische Abschwörungsrituale.

Etwas scheint wirklich in Gang gekommen zu sein: eine Diskussion, die auch die Perspektiven aller emanzipatorischen Kräfte betrifft. Eine Diskussion, die die Gefangenen nicht nur unter sich oder mit der RAF draußen führen können und wollen. Eine Diskussion die sowieso alle führen müssen, die nach neuen Wegen für eine Welt frei von Unterdrückung suchen. Die RAF und die Gefangenen haben gezeigt, daß sie ein Teil dieser Auseinandersetzung sein wollen und können.

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