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  • Politik
  • HUGO WORMSBECHER, Vorsitzender des Zwischenstaatlichen Verbandes der Rußlanddeutschen:

Wir finden unsere Zukunft nicht in der Vergangenheit

  • DETLEF-DIETHARD PRIES
  • Lesedauer: 4 Min.

Als vor Wochenfrist in Moskau der 5. Kongreß der Gesellschaft „Wiedergeburt“ tagte, erklärte deren Vorsitzender Heinrich Groth die Ausreise der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion zum Hauptziel seiner Organisation. HUGO WORMSBECHER, obzwar Mitbegründer der Gesellschaft, trat auf dem Kongreß nurmehr als Gastredner auf; denn mittlerweile ist er Vorsitzender des „Zwischenstaatlichen Verbandes der Rußlanddeutschen“, der sich von der „Wiedergeburt“ getrennt hat. In Berlin legte Wormsbecher dieser Tage die Gründe der Spaltung und die Ziele seines Verbandes dar. :

Die Politik der „Wiedergeburt“ ist nach Ansicht des 1938 im damaligen Marxstadt (heute: Marx) geborenen Rußlanddeutschen in eine Sackgasse geraten, weil sich die Leitung der Gesellschaft ausschließlich auf die Wiederherstellung der Wolga-Republik orientiert hatte. Man habe die Republik sofort haben wollen, und unbedingt in den früheren Grenzen. Diese

Forderungen hält Wormsbecher, seit 1964 in der Bewegung der Sowjetdeutschen aktiv, derzeit für unerfüllbar und kurzsichtig. „Nehmen Sie Engels, die ehemalige Hauptstadt der Republik. Das ist heute eine russische Stadt mit 220 000 Einwohnern und einer ruinierten Wirtschaft. Wozu brauchen wir die? Die Stadt würde uns über 15 oder 20 Jahre nur belasten.“ Und abgesehen davon, daß die russische Regierung vor allem um ihre Macht kämpfe und viele andere Probleme habe, sei da noch der Beschluß des Obersten Sowjets über ein dreijähriges Moratorium für Grenzveränderungen innerhalb der Russischen Föderation. „Also ist auch die Wolga-Republik für drei Jahre von der Tagesordnung.“ Im übrigen erinnert Wormsbecher daran, daß nur ein Viertel der damaligen Sowjetdeutschen in der Republik lebten, die Stalin 1941 liquidieren ließ. „Natürlich sind wir für eine Wolga-Republik, aber wir dürfen nicht warten, bis die russische Regierung sie uns schenkt.

Wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen die Möglichkeiten nutzen, die uns die heutige Situation gibt.“ Hauptziel seines Verbandes sei es, die Rußlanddeutschen als Volk zu erhalten. „Weder die Assimilierung in Rußland noch die Auswanderung - auch das ist eine Form der Assimilierung - gibt uns als Volk eine Zukunft.“ Wormsbecher plädiert deshalb zunächst für die Schaffung kompakter Ansiedlungen und Ballungsgebiete, in denen die Eröffnung deutscher Schulen, die Pflege von Sprache und Kultur möglich wäre. Verschiedene Gebiete Rußlands - Tambow, Kursk, Woronesh, Kaluga, Pskow, auch das Moskauer und das Petersburger Gebiet - hätten angeboten, 120bis 150 000 Deutsche aufzunehmen. „Diese Gebiete sind daran interessiert, gute Arbeiter zu bekommen, und sie hoffen, daß mit den Rußlanddeutschen auch Hilfe aus Deutschland kommt.“ Solche regionalen Interessen könne man nutzen, um das eigene Anliegen die Schaffung kompakter Ansied-

lungen, in denen größere Gruppen von Deutschen eine Perspektive hätten - durchzusetzen. Sein Verband prüfe die Vorschläge, wähle die optimale Variante aus und wolle dann gemeinsam mit den Gebietsbehörden Druck auf die Regierung in Moskau ausüben, um ein Mindestmaß an Unterstützung zu erhalten.

Daß, wie von Groth behauptet, 80 bis 90 Prozent der Deutschen auswandern wollen, bezweifelt Wormsbecher. Es gebe 700 000 Ausreiseanträge - bei offiziell 2 Millionen Deutschen in den Staaten der GUS (eine Angabe, die Wormsbecher im übrigen für zu niedrig hält). Die meisten seien gezwungen, den Antrag zu stellen, weil sie keine Hoffnung auf eine Änderung ihrer miserablen Lage haben. Wenn man ihnen jedoch eine gewisse Sicherheit für die Zukunft gäbe, würde sich mancher seinen Schritt überlegen.

Deutsche Siedlungen hält Wormsbecher auch im Gebiet Kali-

ningrad für möglich, wohin bereits 9000 Rußlanddeutsche gezogen sind. Die „Königsberger Variante“ als Zwischenstadium zur Gründung einer nationalen Republik, womöglich mit der Perspektive des Anschlusses an Deutschland, schließt er jedoch als gefährlich aus. Skeptisch steht er auch dem Angebot von Präsident Krawtschuk gegenüber, 400 000 Deutsche in der Ukraine anzusiedeln. „Ja, auch vor dem Kriege lebten 400 000 Deutsche in der Ukraine. Aber ich glaube, wir finden unsere Zukunft nicht in der Vergangenheit. Wir dürfen nicht hoffen, daß wir zurückbekommen, was wir vor dem Kriege hatten.“ Wer, der jetzt etwa aus Kasachstan verdrängt werde, wolle nach Russisch, Deutsch, Kasachisch nun auch noch Ukrainisch lernen? Die Beherrschung der Staatssprache sei aber inzwischen überall Bedingung für ein Fortkommen. Nein, die meisten Rußlanddeutschen, die zu bleiben gewillt seien, sähen ihre Zukunft in Rußland.

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