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  • Politik
  • Verbale Schaugefechte um mögliche Koalition von SPD, FDP und GRÜNEN nach den Bundestagswahlen Ende 1994 in Bonn:

Bremer Ampel als Wegweiser für Macht am Rhein?

  • Wolfgang Rex
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Grünen wollten die Welt retten, nicht aber die FDP Selbstbewußt sagte der nunmehr einzige Bundessprecher der Grünen, Ludger Volmer, dem FDP-Vorsitzenden Graf Lambsdorff eine mögliche Ampelkoalition nach den Bundestagswahlen Ende 1994 ab. Lambsdorff hatte die Grünen nach dem geglückten Vereinigungskongreß mit dem ostdeutschen Bündnis 90 zur demokratischen Partei und für regierungsfähig erklärt.

Allerdings gibt es bereits mehrere Regierungsmannschaften mit Ministern aus der grünen Partei, sogar zwei Ampelkoalitionen. Eine in Bremen und die in Brandenburg, wo Bündnis 90 den dritten Partner spielt. Eine Bonner Ampel wäre also kein Exot.

Aber auch Joschka Fischer, in Hessen Umweltminister, wettert gegen eine Ampel in Bonn: „Die Liberalen leiden doch an einem politischen Autokannibalismus“, meinte er zu der Neigung der FDP, unablässig über Personal- oder

Sachfragen mit sich selbst im Streit zu liegen. Zudem klagte Fischer, die FDP gebe unbequeme Themen wie Bürgerrechte und Verteidigung des Rechtsstaates auf.

Dagegen hätten Fischer und Volmer auf dem Vereinigungskongreß Grüne/Bündnis 90 Mitte Januar heftig die SPD umworben, denn eine rot-grüne Mehrheit sei der Weg, um Grüne auch in Bonn an die Macht zu bringen. Die SPD nahm dieses Signal auf, ihr Geschäftsführer Blessing bezeichnete Rot-Grün als zweitbeste Möglichkeit nach der wohl nicht zu erringenden absoluten Mehrheit für die SPD Ernsthafte Gespräche sind aber frühestens nach dem Wahlabend 1994 zu erwarten.

SPD-Führung und FDP marschieren gerade weiter nach rechts. Die FDP rückte nach langen Diskussionen vom Grundrecht auf politisches Asyl ab (die SPD-Füh-

rung folgte), die Wege für den großen Lauschangriff scheinen trotz des Widerstandes der liberalen Justizministerin innerhalb der FDP gebahnt. In der Frage, weltweite Bundeswehreinsätze Ja oder Nein, würde die FDP sofort mit CDU/CSU gehen, wenn nur die Verfassung entsprechend geändert wäre. In der Wirtschaft haben sich (vorerst?) die Leute um Lambsdorff durchgesetzt, die soziale Leistungen abbauen wollen. Zudem weigert sich die FDP, mit dem Solidarpakt auch die Besserverdienenden mit Zusatzsteuern zu belegen. Da hätte wohl Joschka Fischer mit seiner Position recht, daß es für Grün keine Koalitionspolitik mit Gelb geben könnte. Logisch wäre dann allerdings eigentlich auch eine Absage an die SPD.

Ein noch relativ frisches Beispiel für gewandelte Ansichten nach Wahlabenden

lieferte Bremen. Die SPD hatte für ihren Spitzenkandidaten Wedemeier zu den Landeswahlen mit „Lieber Klaus!“ geworben, die Bremer Grünen mit „Lieber nicht!“ gekontert. Trotzdem stand für die Grüne Spitzenkandidatin Helga Trüpel schon vorher das Ziel fest, die bisherige SPD-Alleinherrschaft zu durchbrechen und die Grünen in eine Koalition mit dieser Partei einzubringen: „Wir haben zehn Jahre aus der Opposition Alternativen vorgelegt, nun wollen wir sie auch mal verwirklicht sehen“, hieß ihre einleuchtende Meinung zum Thema Koalition. Nach den Wahlen gab es dann nur die Dreier-Koalition mit der FDP Nach mehreren Anläufen stimmte schließlich auch die Bremer Basis der Grünen dem Ampel-Unternehmen zu.

Bremen könnte trotz der Reaktionen aus dem Bundesvorstand der Grünen als Modell

für Bonn dienen. Daß die Grünen wieder in den nächsten Bundestag einziehen, wird kaum bezweifelt. Joschka Fischer will für das Mandat in Bonn sogar seinen Ministerposten in Hessen sausen lassen. Fischer traut sich am ehesten zu, den Wahlkampf zu gewinnen. Ungeachtet verbaler Ausfälle contra Liberale wäre Fischer im Fall der Fälle wohl derjenige, der Koalitionsverhandlungen mit der FDP führen würde.

Einfluß auf solche Entscheidungen wird 1994 auch von den Spitzenleuten des bisherigen Bündnis 90 ausgehen. Bereits vor der Vereinigung mit den Grünen sorgte Bündnis 90 dafür, daß wichtige Punkte aus deren Programm über Bord gingen, etwa die Präambel mit der Verpflichtung zur alternativen Gesellschaftspolitik. Verbale Kraftmeierei entscheidet zwar noch nicht reale Politik. Die in Regie-

rungsmannschaften sitzenden Grünen hatten jedoch ebenfalls kaum Möglichkeiten, alternative Politik durchzusetzen. Nicht umsonst klingt die Bezeichnung dieses Flügels der Grünen mit „Realos“ reichlich resignativ

„Reale Politik“ wollen wohl auch die Leute von Bündnis 90 betreiben. Nach,zwei Jahren Bundestag sind bei den Abgeordneten dieser Gruppe die gleichen Erscheinungen zu beobachten wie bei den osteuropäischen Bürgerbewegungen. Was sich einst im Kampf gegen die herrschende SED zusammenfand, driftet in die unterschiedlichsten politischen Lager ab. In Kommunen verkünden Bündnis-Leute heute schon unverhohlen, daß sie entweder nicht wieder antreten oder sich einen Listenplatz bei CDU oder SPD sichern wollen.

In einer künftigen Bundestagsfraktioh könnten also die

Spitzenleute der ostdeutschen Bürgerbewegung, dann in der gemeinsamen Partei, ebenfalls in Richtung Ampel wirken. Die radikale Ingrid Koppe will ja nicht mehr kandidieren. Werner Schulz, der im Bundestag dem Kanzler auf die Füße tritt, setzte auf dem Vereinigungskongreß in Hannover sein ganzes Gewicht für die neue gemeinsame Partei ein. Er will offensichtlich nach den zwei ernüchternden Jahren in Bonn zukünftig mitbestimmen. Bremer Modell?

Das Überraschende an der dreiseitigen Annäherung: Weder SPD und schon gar nicht FDP kamen den Grünen entgegen. Das war auch überhaupt nicht nötig, denn der Kongreß in Hannover signalisierte den anderen Parteien größere Kompromißbereitschaft der Grünen. Da wirken die Floskeln von Lambsdorff und aus der SPD schon einleuchtend, die brüsken Absagen von Fischer und Volmer eher wie Wahlscharmützel.

WOLFGANG REX

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