Hass auf Arme, Neid auf Reiche?

  • HEUTE: HARRY NICK
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Wie ist es nur möglich, dass Parteien, die Bekenntnisse wie »demokratisch«, »christlich«, »sozial« in ihrem Namen kund tun, neuerdings darum wetteifern, wer energischer den Kampf gegen »Sozialmissbrauch« zu führen vermag, gegen Faulenzerei vor allem unter den Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern?
Wenn ein Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission härteres Vorgehen gegen Arbeitslose unter ausdrücklicher Berufung auf dieses Amt verlangt und wenn ein vermutlich mit schwarzen Kassen an die Macht gelangter CDU-Ministerpräsident USA-Praktiken bei Sozialhilfeempfängern importieren will, wenn der Kanzler höchstselbst die Kampagne gegen Faulheit der Armen anführt, so bleibt in diesen Wahlzeiten doch wenigstens zu fragen: Befürchten diese Politiker denn nicht Stimmenverluste?
Offenbar muss das Gegenteil der Fall sein. Die FDP nannte den jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der mehr verhüllt als offenbart, einen »Neidbericht«, der Stimmung gegen die »Leistungsträger«, die Wohlhabenden mache. Das eben ist nicht wahr. Die allgemeine sozialpsychische Verfasstheit dieser Gesellschaft ist nicht durch Neid, sondern durch Zuneigung, Bewunderung denjenigen gegenüber geprägt, denen es besser geht. Und durch Abneigung bis Verachtung denjenigen gegenüber, denen es schlechter geht. Das wird nur wenig gemildert, indem sich unter die Bewunderung für die Reichen und Schönen mitunter ein wenig Neid mischt und die jeweils Ärmeren ein Trost sind für manche weniger Arme. Bestimmend für das Mehrheitsverhalten ist die »Aufwärtssolidarität«, nicht die »Abwärtssolidarität«. Und die Abgrenzung gegen den Ärmeren ist um so stärker, je größer die Schwierigkeiten des Aufstiegs zu den Reicheren sind. Und diese Schwierigkeiten haben in den letzten beiden Jahrzehnten erheblich zugenommen.
Wenn jemand von mehreren Stellen Sozialhilfe bezieht, bringt das den Volkszorn zum Überlaufen. Penibel wird nachgerechnet, was ein Ausländer an Sozialleistungen bezieht. Wer aber errechnet zum Beispiel die vielen tausend Jahre, die die reichsten Deutschen hätten arbeiten müssen - angenommen, sie würden monatlich 5000 Mark sparen - um ihren heutigen Reichtum durch eigene Arbeit anzuhäufen. Für den reichsten Deutschen (laut »Managermagazin«) kommt etwa das Zehnfache des Menschheitsalters, seit dem Auftauchen des Homo sapiens sapiens, zusammen.
Besser leben wollen, ist eine unausrottbare Eigenschaft der menschlichen Spezies. Und das Näherliegende ist dann eben, selber reich werden zu wollen. Sich mit anderen über Gerechtigkeit, gemeinschaftlichen Widerstand zu verständigen und den auch noch zu leisten, verlangt intellektuelle wie moralische, reale Anstrengung. Diese soziale Entropie - die Dinge einfach laufen lassen - verlangt keine Energie, es zu verändern, ist ohne Energie nicht möglich. Das war immer der große Vorteil der Herrschenden, und wird es auch bleiben.
Das Schlimmste an dieser Neidkampagne gegen die Schwachen ist, dass sie deren ohnehin stumpfe Waffen noch stumpfer macht. Sie vergrößert das Elend. Nur die Hälfte etwa der Sozialhilfe-Berechtigten nimmt diese Hilfe auch in Anspruch. Der wichtigste Grund ist die Scham. »Unter moralischen Krisen haben die Wohlhabenden nicht zu leiden, wohl aber die Armen.« (John Kenneth Galbraith). Wer schämt sich über die Korruption, die schätzungsweise die Marktpreise in diesem Lande um ein Fünftel verteuert? Schämen sich die Steuerhinterzieher, die den Staat um eine größere Summe schädigen, als der für Sozialhilfe ausgibt?
Über Lebenslagen will der jüngste Armutsbericht der Regierung Auskunft geben. Wie die Armen, wie Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger wirklich leben, erfährt man in diesem Bericht nicht. Auch nichts darüber, dass die Suizidgefahr unter den Arbeitslosen etwa 20 Mal, ihr Herz- und Kreislaufrisiko 26Mal größer ist, verglichen mit den Erwerbstätigen. Wer arbeitslos wird, fällt in ein anderes soziales Milieu. Dieser Fall, so die Psychologie-Professorin Christine Morgenroth, löst sich psychologisch in drei Phasen auf: Schock, verzweifelte Aktivität, Fatalismus. Das Ergebnis ist Traumatisierung, ein Überwältigungserlebnis, dem mit eigenen Mitteln nicht begegnet werden kann.
Arbeitslosigkeit ist ein »stummer Gewaltakt«, ist »strukturelle Gewalt«. Die Wirkungen sind um so verheerender, je stärker die Bindung an die Arbeit war, wie im Allgemeinen bei den Ostdeutschen. Das Schlimme ist: die Armen, die Arbeitslosen finden wenig oder keine Unterstützung in ihrem Umfeld, sie haben fast keine Foren, keine Orte für die Verarbeitung ihrer Probleme. Es verschlechtert sich ihr Bild von sich selber, sie verinnerlichen die Schuldzuweisungen von Schröder, Scharping und Koch. Sie verlieren, so Morgenroth, an Realitätssinn, vor allem die großen Zusammenhänge schwinden aus dem Blickfeld. Sie sehen eher in den Angestellten im Arbeitsamt und Sozialamt ihren Feind als im Unternehmen, das sie entlassen hat. Viele leiden an Schlaflosigkeit, unter Angst, unter anhaltend hohem Stress. Es ist eine Trauer, eine Hilflosigkeit ohne Ende.
Warum wird das »stumm« hingenommen? Weil der, der sich krank und matt fühlt, den Mut zu kämpfen verliert. Das also ist die »soziale Hängematte«, in welcher manche Christen, Demokraten und Sozialdemokraten die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger wähnen. Eine Linke, die solchem Zeitgeist, solcher Politik nicht widerstünde, nicht Verständnis zeigt und Hilfe gibt, die nicht empfindet wie Jesus »Was du den geringsten unter meinen Brüdern angetan, hast du mir getan«, wäre überflüssig. Vor allem die Linken sind zuständig für die Produktion von Empathie in dieser Gesellschaft, dieser Verbindung von Sympathie, kämpferischer Solidarität und Barmherzigkeit. Das soziale Minimum gehört zu den Menschenrechten.

Der Nürnberger Philosoph und Wirtschaftshistoriker Robert Kurz und der Berliner Ökonom Harry Nick beschäftigen sich alternierend alle 14 Tage in einer Gastkolumne mit ...

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