Kaum ein Patient wird angemessen versorgt

Experten legen Gutachten zur Über-, Unter- und Fehlversorgung vor

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
Eine Untersuchung der Über-, Unter- und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen legte gestern in Berlin der Sachverständigenrat vor. Der dritte Teil seines Gesamtgutachtens über Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit bescheinigt dem System Versagen.
Anhand zehn großer beispielhafter Krankheitsgruppen haben die Sachverständigen für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen die Versorgungssituation analysiert. Unter diesen Krankheiten, die weit mehr als die Hälfte aller Kosten verursachen, sind beispielsweise Herz-, Gefäß und Lungenerkrankungen sowie Rückenleiden, Krebs und Depressionen.
Fazit der Experten: Überall gibt es einen erheblichen Verbesserungsbedarf. In fast allen Fällen wird das Potenzial an Vorbeugung und Rehabilitation nicht ausgeschöpft. Beispiel dafür ist die Diabetikerversorgung. Seit über einem Jahrzehnt gibt es hier regionale Modellversuche, ohne dass es zu einer durchgreifenden Verbesserung der Versorgung gekommen wäre. Nach den vorliegenden Daten hat Deutschland die international anerkannten Ziele einer zeitgemäßen Diabetikerbetreuung nicht erreicht. Die »nicht optimale Versorgung«, gab Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) zu, führe dazu, dass es doppelt so viele Amputationen wie in anderen Ländern gibt. Kurzfristige Lösungen seien jedoch weder in diesem noch in den anderen geschilderten Fällen denkbar. »Die Probleme sind nicht mit einer Sofortreform aus einem Guss zu erledigen, sie bedürfen permanenter Reformen.« Die Strukturmängel seien das Ergebnis langjähriger Fehlsteuerungen, aber die Gesundheitspolitik sei auf dem richtigen Weg.
Aus den Befragungen von ca. 300 wissenschaftlichen Organisationen, Körperschaften, Verbänden und Selbsthilfeeinrichtungen des Gesundheitswesens schlussfolgerten die Gutachter, dass es eklatante Mängel in der sinnvollen Verbindung von Behandlungsphasen, Versorgungsbrüche infolge strikt abgegrenzter Zuständigkeitsbereiche und Defizite in der Qualifizierung, Aufklärung und Entscheidungsfindung gibt. Die Krankheitsbehandlung sei, so Gutachter Prof. Friedrich Wilhelm Schwartz, auf die »akute, episodenhafte und eindimensionale Krankheitsform ausgerichtet«. Die sozialen, psychischen und biographischen Bezüge chronisch Kranker und ihrer Angehörigen blieben unberücksichtigt. Die Partizipation des Kranken an seinem Genesungsprozess sei ungenügend entwickelt, es mangele an flexibler Versorgung und die Anreizsysteme machten chronisch Kranke zu einem »schlechten Risiko«. Diese Paradigmen seien bei allen Krankheiten und Patientengruppen zu beobachten. Sie seien überholt.
Der Sachverständigenrat skizziert ein aus seiner Sicht dringend gebotenes »Nationales Anti-Tabakprogramm«. Dies sei wichtig für eine glaubwürdige und von der Krankheitslast her dringend gebotene nationale Präventionspolitik. Weiter unterstützt er die Idee eines »Nationalen Herz-Kreislauf-Präventionsprogrammes« nach dem Vorbild staatlich erfolgreich angeleiteter Programme in anderen Ländern, zum Beispiel in Finnland. In Deutschland würden doppelt so viel Herzkatheteruntersuchungen vorgenommen wie in anderen Ländern, die Operationszahlen seien wesentlich höher, es würden viel mehr Arzneimittel und Anschlussheilbehandlungen verordnet als anderswo. Dies alles, so der Gutachter Karl. W. Lauterbach, wäre vertretbar, wenn die Ergebnisse es rechtfertigten. Aber die Mortalität (Sterblichkeit) liege in Deutschland im internationalen Vergleich nicht im untersten, sondern nur im mittleren Bereich. Es wäre also ein Trugschluss zu glauben, wenn man mehr Geld in das System gebe, wäre die Gesundheitsversorgung besser.
Das Sachverständigengremium kündigte eine Studie zur Rolle der Verbände und Lobbyisten im Gesundheitswesen an. Im November will es sich außerdem zu den im ersten Halbjahr 2001 um acht Prozent gestiegenen Arzneikosten äußern.


Fakten

Zu wenig

- Obwohl ein möglichst schneller Therapiebeginn nach einem Schlaganfall wichtig ist, werden nur 50Prozent aller Patienten schnell in ein Krankenhaus aufgenommen.

- Die Angebote der gesetzlichen Krankenkassen zur Krebsfrüherkennung erreichen Personen mit erhöhtem Krankheitsrisiko nicht.

- Bei einem Großteil der Krebspatienten mit chronischem Schmerz wird dieser nicht ausreichend behandelt.

Zu viel

- Für die meisten Angebote gegen Rückenschmerzen (Kreuzgürtel, Korsette, Informationen, Rückenschulen) gibt es keine Wirksamkeitsnachweise.

- Zur Brustkrebs-Früherkennung wird den Frauen ein nicht qualitätsgesichertes Screening angeboten, das viele falsche Befunde ergibt.

- Die Behandlung mit kieferorthopädischen Maßnahmen überschreitet mit über 60 Prozent aller Jugendlichen alle internationalen Normwerte von 12 bis 45 Prozent.
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