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  • Brandenburg
  • Was hängt in jeder Kneipe an der Wand, ist klein, bunt, schön und kostenlos?

Schleichwerbung im Postkartenformat

  • Lesedauer: 4 Min.

Nicht nur Werbebotschaften, auch politische Aussagen werden im DIN-A6-Format unters Volk gebracht. Wie diese Karte gegen Mittelkürzungen bei der Schwulenberatungsstelle Repro: ND

Man kommt einfach nicht mehr an ihnen vorbei. Egal, ob man im „Stillen Don“ gemütlich sein Bier trinkt, im „Caf§ Einstein“ seine Torte verzehrt oder sich im Restaurant „Florian“ einen Hauch Kaviar auf der Zunge zergehen läßt. Spätestens, wenn man vom Klo kommt oder sich zum Gehen wendet, hängt einem direkt vor der Nase ein Wandhalter. Gefüllt ist er mit einem Dutzend bunter, wohlgestalteter Postkarten. Manche zeigen abstrakte Strukturen in wilden Farben, auf anderen erkennt man die Plakate kürzlich gelaufener Filmfeste. Über den Karten steht die Aufforderung, die gedruckten Kunstwerke mitzunehmen. „Kostenlos?“ fragt man sich zuerst irritiert, denkt noch an einen Irrtum, stopft sich aber schließlich nach einem absichernden Blick schnell «in paar Karten in die Tasche, bevor man weitergeht.

Es hat alles seine Richtigkeit. An rund 260 Orten in Berlin kann man sich diese neue Art der Werbung im Format DIN A6 umsonst einstecken, um damit anschlie-ßend Omi, Tante oder alle sonstigen lieben Mitmenschen nach dem Beschriften der freien Rückseite mit Grüßen zu beglücken. Daß die Wandhalter ruck, zuck leerwerden, davon lebt Anton Jäger, Juniorchef der Firma „DIN A6“ in Neukölln. Zusammen mit Tadeusz Szelinski hat er seit Januar die über die Hauptstadt hereingebrochene Kartenflut zu verantworten.

Rund 150 verschiedene Motive sind bereits entstanden, die monatliche Auflage beträgt zur Zeit eine halbe Million Stück. „Das System gibt es in Deutschland seit April 1992“, erzählt Anton Jäger. „Zuerst hat es noch eine andere Werbeagentur gemacht, Anfang des Jahres haben wir es dann ausgeweitet, und etwas später hat man auch in anderen Städten damit angefangen.“ Doch die Konkurrenz ist bislang nicht großrüe“diglich ( . zwei - weitere Firmen vecsafgenläieCBaliüngszehtren südlich bzw. nördlich von Berlin.

Die Idee ist genial. Kulturveranstalter aller Art, Modefirmen, Reiseunternehmen und Sportartikelhersteller buchen statt der großen Plakatwände die kleine Kartenfläche und sind mit der Werbebotschaft für ihr Produkt oder ihre Veranstaltung in allen wichtigen Kneipen, Cafes, Theatern, Kinos und Restaurants vertreten. Damit wird ein jüngeres und aktives, in der Regel kulturinteressiertes und gutverdienendes Publikum direkt erreicht. Eine gezieltere „Schleiehwerbung“ im ästhetischen Gewand gibt es-aic'ht. „Diese Art von Werbung wird auch viel eher angenommen als der Werbespot,

der den Spielfilm an der spannendsten Stelle unterbricht“, beschreibt Anton Jäger die Wirkung.

Dabei sah es zu Beginn so aus, als ob die Idee scheitern würde. Als erstes mußten die Wirte davon überzeugt werden, daß es für sie von Nutzen ist, solche Ständer in ihren Räumen hängen zu haben, obwohl sie ihnen kein Geld bringen, aber auch nichts kosten. Hinzu kam, daß die beiden Macher von DIN A6 absolute Neulinge waren. „Jeder Kon-«äKtfzur'Wirtsehaft und Werbeindustrie mußte erst aufgebaut'-werden“; stöhnt der gelernte Betriebswirt Jäger. Das Arbeitsamt, bei dem er vorher

arbeitslos gemeldet war, hatte ihm sogar mitgeteilt, daß es an ein Gelingen des Unternehmens nicht glaubt.

Anfangssorgen, die inzwischen durch den Erfolg verflogen sind. „Wir haben im September soviele Aufträge wie noch nie“, freut sich der Postkarten-Manager. Mit von der Werbepartie sind diesmal sogar das Bundesumweltministerium, American-Express, der Veranstalter Concert-Concept und der Modegigant Bennetton.

Der kleine Betrieb beschäftigt inzwischen eine Sekretärin, zwei Akquisiteure und zehn Kartenkuriere, die wöchentlich die Wandhalter auffüllen. Daß sich die Idee irgendwann einmal totläuft und die Karten in den Haltern liegenbleiben, glaubt Jäger nicht: „In Paris läuft es seit fünf, in Barcelona seit acht Jahren mit großem Erfolg.“ Die Druckerzeugnisse sind mittlerweile auch zu einem begehrten Sammlerobjekt geworden.

In den Ständern findet sich nicht nur reine Werbung. Zwischendurch gibt es immer wieder reine Künstlerkarten ohne Produkt- oder Veranstaltungshinweis. „Wir wollen ein ausgewogenes Verhältnis, wollen auch Spaß bei der Geschichte haben“, erläutert Jäger die Philosophie seiner Firma. Und zu der gehören ebenfalls politische Aussagen. So beteiligte sich DIN A6 mit einem Motiv an der Aktion „Es reicht“ gegen Ausländerfeindlichkeit. Und auch für die bedrohte Schwulenberatungsstelle hat DIN A6 mit einer Postkarte Stellung bezogen.

Bauchschmerzen bekam Jäger allerdings bei der Anfrage einer bekannten Fast-Food-Kette und wies das Angebot mit dem Hinweis auf den krassen Gegensatz - Hamburger auf Karten, die in einem Nobelrestaurant, hängen - zurück. Bei gelben Olympiabärchen-Motiven hat er ebenfalls Bedenken, allerdings nicht aus politischen Gründen: „Es gibt Kneipen, da würde man mir dann den Halter von, der Wand reißen.“

CHRISTIAN SCHEUß

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