Merkel predigt großen Sprung

CDU will Systembruch der Sozialversicherung - die Rechnung hat Tücken

Eigentlich wollte die CDU auf dem Leipziger Parteitag ungestört ihre Konzepte für die Reform der Sozialsysteme zelebrieren, doch der Geist des Abgeordneten Martin Hohman war gegenwärtig.
Bevor die 1001 Delegierten des CDU-Parteitages gestern Vormittag das Congress Center der Leipziger Neuen Messe betreten konnten, mussten sie eine Protestfront passieren. Tausende Polizisten und Bundeswehrangehörige empfingen die Christdemokraten aus Wut über Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst mit einem gellenden Pfeifkonzert. Viel unauffälliger waren da ein paar junge Männer, die vor der Halle Flugblätter verteilten. Dessen Text ist für die CDU nicht weniger brisant: Die Rostocker Burschenschaft Obotritia erregt sich darüber, dass die Skandalrede des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann verfälscht worden und der Politiker den Medien zum Fraß vorgeworfen worden sei. Nein, das soll nach dem Willen der Parteiführung kein prägendes Thema dieses Parteitags werden. Angela Merkel, frisch beschwingt vom Wahlsieg Konrad Adenauers bei der ZDF-Umfrage nach den wichtigsten Deutschen, wollte der SPD den Marsch blasen. Rot-Grün tut das Falsche, und wenn die Regierung doch einmal etwas Richtiges anpacke, dann gehe es zu langsam: »Auch eine Schnecke kann in die richtige Richtung kriechen, aber wir brauchen einen großen Sprung.« Vor allem brauchten die Menschen eine Perspektive, an der sie erkennen könnten, dass sich irgendwann für sie auszahlt, was der Staat ihnen zumutet. Diesen Gegenwert für die Bürger vermisst Merkel bei der SPD völlig. Inzwischen, merkte sie genüsslich an, zweifele selbst die SPD-Funktionärsschicht an ihrem Kanzler; nicht umsonst wolle die Saar-SPD in ihrem Landtagswahlkampf Gerhard Schröder nicht aus der Nähe sehen. Die CDU will nicht mehr wie die SPD am maroden Sozialsystem herumdoktern, sondern strebt laut Merkel »einen Befreiungsschlag« an. Befreit werden dabei zunächst die Unternehmen - von weiteren Erhöhungen ihres Anteils an den Krankenversicherungsbeiträgen. Den Arbeitgeberanteil will die CDU einfrieren, den Gesamtbeitrag dagegen in eine Kopfpauschale umwandeln, der für alle Menschen unabhängig vom Einkommen gleich sein soll, etwa 200 Euro pro Monat. Dies entspräche den heutigen durchschnittlichen Behandlungskosten, sagt Merkel und fügt hinzu, aus Steuermitteln solle ein sozialer Ausgleich für Kinder und Geringverdienende geschaffen werden. Nach interner Debatte soll nun gesichert werden, dass niemand mehr als 15Prozent seines Bruttoeinkommens für die Krankenversicherung zahlt. Wie das Ganze angesichts der Haushaltszwänge bezahlt werden soll, lässt Merkel offen; man müsse eben »die Sozialsysteme von den Arbeitskosten entkoppeln« und so Wachstum und Beschäftigung herauskitzeln. Dass die ganze CDU-Rechnung nicht stimmt, wird hinter den Kulissen diskutiert. Denn das stark vereinfachte Steuermodell, das Fraktionsvize Friedrich Merz heute vorstellen wird, kann nach Ansicht etwa des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller die Gesundheitskosten nicht decken. Müller plädiert deshalb dafür, die von Merz veranschlagten niedrigen Steuersätze etwas höher zu drücken. In zehn Jahren jedenfalls soll Deutschland wieder unter den ersten Drei in Europa stehen - Wirtschaftswachstum, Investitionen, Bildung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Natürlich unter konservativer Führung. Spätestens 2006 will die Union das Ruder übernehmen, und Merkel deutet an, dass man bei Bedarf auch vorher schon bereit sein werde »die Verantwortung zu übernehmen«. Bis dahin muss sie noch im eigenen Laden kämpfen. Dass die CDU schon demnächst einen Kompromiss mit der CSU über einige strittige Fragen der Sozialreformen erzielen wird, daran zweifelt niemand. Das Rennen um die Kanzlerkandidatur der Union läuft. Laut einer neuen Dimap-Umfrage sähen 34 Prozent der Deutschen am liebsten wieder Stoiber als Unionsbewerber, der klar vor Merkel und Roland Koch liegt. Ach ja, über Hohmann sprach Merkel auch. Kurz und knapp. Einmal erwähnte sie sogar den Namen des Bösen, den die CDU erst nach einigem Zögern ausgetrieben hat. Die Konstituierung der CDU habe in den NS-Gefängnissen begonnen, erklärte Merkel und warf Hohmann vor, programmatische Grundsätze der CDU in Zweifel gezogen zu haben. Dass in der CDU der Bundesrepublik hochrangige Nazis steile Karrieren machten, ließ die Parteichefin unerwähnt. Statt dessen beteuerte sie, die CDU sei weder auf dem rechten noch auf dem linken Auge blind und bezeichnete die Anerkennung der Singularität des Holocausts als Teil der Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst Damit war freilich das Kapitel Hohmann nicht abgehakt. Einer der ersten Diskussionsredner, ein älterer Mann aus Nordrhein-Westfalen, erregte sich über Hohmanns Parteiausschluss, forderte Gedankenfreiheit und fairen Umgang. Da mussten schon zwei Vize-Parteivorsitzende ins Rennen gehen, um die gewünschte Linie noch einmal vorzugeben. Annette Schavan und Jürgen Rüttgers. »Ich will mit Leuten wie Ihnen nicht in einer Partei sein«, fuhr Rüttgers den Landsmann an. Die Unterzeichner des Aufrufs für »kritische Solidarität« mit Martin Hohmann dürften da anderer Meinung sein. Inzwischen haben ihn über 3000 Mitglieder der beiden Unionsparteien unterschrieben.
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