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  • Ein Dokument über die Situation deutscher Emigranten und Facharbeiter in der Sowjetunion Ende der 30er Jahre

Verhaftet und verschwunden

  • Lesedauer: 3 Min.

Weihnachten in Moskau: Anna Eberlein, Werner Eberlein, Leo Flieg, Helene Harms, Fritz Globig, Martha Globig (v.l.n.r.), von Stalins Repressionen betroffene deutsche Kommunisten Foto: ND/Archiv

In letzter Zeit wurden einige weitere aufschlußreiche Zeugnisse über die Situation deutscher Emigranten und Facharbeiter in der Sowjetunion Ende der 30er Jahre, gefunden im „Russischen Zentrum zur Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der Neuesten Geschichte“, in der russischen Fachpresse publiziert - u.a. ein ausführlicher Bericht, den Paul Jäkel (1890 -1943), einstiger KPD-Reichstagsabgeordneter, 1933 in die Sowjetunion emigriert und seit 1936 im Apparat der Komintern tätig, am 29. April 1938 in Moskau verfaßt hatte. Sein Schreiben war an Philipp Dengel (1888 - 1948), Mitglied des KPD-Politbüros, seit 1928 im Exekutivkomitee (EKKI) der KI. adressiert.

Als Jäkel seinen Bericht schrieb, war den KPD-Vertretern beim EKKI bekannt, daß 842 deutsche Genossen durch das NKWD verhaftet worden waren. Jäkel hierzu: „Die tatsächliche Zahl der verhafteten Deutschen ist natürlich höher.“ Von Oktober 1937 bis Ende März 1938 seien 470 Deutsche verhaftet worden, allein im März 1938 wären es 100 gewesen, meint Jäkel. „Wenn die Verhaftungen in diesem Umfang weitergehen, wie im März 1938, so gibt es in drei Monaten nicht einen einzigen deutschen Parteigenossen mehr.“ Bis dato seien bereits über 70 Prozent aller Mitglieder der KPD verhaftet. In der Stadt Engels gäbe es bereits keinen deutschen Emigranten mehr auf freiem Fuße.

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munisten, die zu Jahresanfang 1937 in Leningrad lebten, seien im Februar 1938 gerade noch ein Dutzend übriggeblieben. Unter den vom NKWD Verschleppten würden sich auch zahlreiche Jugendliche befinden, die entweder mit ihren Eltern oder allein in die UdSSR gekommen waren. „Verschwunden“ seien z.B. die Söhne von Max Maddalena, Heinrich Schmidt und Max Seydewitz.

Jäkel beklagt, daß deutsche Kommunisten auch von Funktionären der KPdSU diskriminiert werden. So habe ein Parteisekretär eines Moskauer Rüstungsbetriebes namens Serdowski gegenüber der Frau von Willy Kleist (Kerf, ehemals preußischer Landtagsabgeordneter, Entlastungszeuge im Reichstagsbrandprozeß, seit 1935 in der SU) geäußert, daß „alle Deutschen in der UdSSR Spione“

seien. Als diese daraufhin bemerkte, daß ihr Mann im KZ saß, habe er geantwortet: „Gerade die, die in den Konzentrationslagern waren, wurden von den Faschisten als Spione geschickt.“ Paul Jäkel zitiert öffentliche Stellungnahmen gleicher Sentenz, verweist aber auch darauf, daß es einige Beispiele gebe, wo deutsche Familien von russischen Arbeitern oder Nachbarsfrauen

vor der drohenden Verhaftung gewarnt worden seien.

Die Frauen und Kinder Verhafteter, so Jäkel, befinden sich in einer dramatischen Notlage. Sie werden von Lebensmittelzuteilungen ausgeschlossen und arbeitslos, allein weil sie das Kainsmal tragen, Angehörige von „Volksfeinden“ zu sein. Jäkel nennt dutzende Fälle und erinnert an den Freitod der Frau von Felix Halle am 11. Oktober 1937 sowie von Gertrud Mühlberg (Olbrisch) März 1938. Er macht auf das schwere Los von Frauen von Spänien T Kämpfern'* aufmerksam 1 '(lij'ai Erna Fugmann, Martha Grüner).

Paul Jäkel vermittelt des weiteren seine Beobachtung, daß aus der Arbeiterschaft der deutschen Emigration schon früh scharfe Worte der Kritik zu hören waren. Die anfängliche Meinung, daß an den Beschuldigungen gegen die Verhafteten „etwas dran sei“, verflüchtige sich immer mehr. Niemand könne mehr glauben, daß Kommunisten wie Paul Scherber (Schwenk), Willy Kleist, Hans Hausladen oder Walter Dittbender Provokateure oder Spione seien. Mehrere Frauen (z.B. von Kukulis und Harms) forderten indirekt, daß die Partei etwas gegen „soviel Ungerechtigkeit“ tun müsse. Jäkel gemahnt: „Das Vertrauen in die Partei und auch zu den Organen der Sowjetmacht sinkt.“

Paul Jäkel starb 1943 an Fleckfieber in Mitschurinsk, als er in einem deutschen Kriegsgefangenenlager tätig

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