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Gegen die Logik des »kleineren Übels«

Von Martin Künkler

  • Lesedauer: 4 Min.
Es muss Schluss sein mit einer Politik, die der Masse der Bevölkerung schadet und die die Reichen immer reicher und die das Kapital und seine Manager immer dreister werden lässt«, forderte der DGB-Vorsitzende Michael Sommer zurecht am 3. April. Doch Sozialdemokratie und Grüne werden den Kurs der Agenda 2010 nicht aus sich heraus verändern. Nur wenn der Druck von der Straße so gesteigert werden kann, dass der Sozialdemokratie weiterer Machtverlust und ein Absinken in die Bedeutungslosigkeit drohen, besteht die Chance auf einen Kurswechsel. Wahlniederlagen in diesem Jahr - und der damit verbundene Verlust von Mandaten, Ressourcen und Geld - sind wohl die notwendige Bedingung für eine »Revolte« innerhalb der Sozialdemokratie gegen die Agenda 2010. In Berlin, Köln und Stuttgart waren viele Menschen auf der Straße, die sonst nicht demonstrieren - so der Eindruck vieler Beobachter. Daran sollten zukünftige Protestaktivitäten anknüpfen. Es gilt, die Themen in den Mittelpunkt zu stellen, die unter den Nägeln brennen. Folgende Kristallisationspunkte, an denen die grundfalsche Richtung der Agenda 2010 und Alternativen aufgezeigt werden können, bieten sich an: Der absehbare Großkonflikt um längere Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst sollte genutzt werden, um für die Umverteilung von Erwerbsarbeit zu werben. Anhand der Gesundheits»reform« mit Praxisgebühr und Zuzahlungen kann exemplarisch verdeutlicht werden, wie die Agenda 2010 Arbeitnehmer, Kranke, Rentner und Arbeitslose schröpft und wie Arbeitgeber und Reiche profitieren. Und schließlich sollte die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ein zentrales Thema sein. Gerade an diesem Punkt kann mit Aufklärung noch viel bewegt werden, denn die katastrophalen Folgen sind in der breiteren Öffentlichkeit noch wenig bekannt: Hunderttausende Erwerbslose und ihre Familien werden in die Armut gestürzt. Vielfach werden Wohnungswechsel erzwungen, da die Mietkosten nur in engen Grenzen übernommen werden. Und Erwerbslose müssen (fast) jede Arbeit zu jedem Preis annehmen. Hier besteht aber auch ein strategischer Ansatz, um die Proteste gegen die Agenda 2010 zu verbreitern. Denn die Löhne der Beschäftigten werden immens unter Druck geraten, wenn die Arbeitslosenunterstützung nicht zum Leben reicht und Erwerbslose Hungerlöhne akzeptieren müssen. Wer bei Arbeitslosen kürzt, der drückt auch die Löhne. Diese indirekten Auswirkungen auf Beschäftigte sollten wir stärker ins Blickfeld rücken. Die erfolgreichen Massenproteste am 3. April lassen sich nicht in beliebig kurzen Zeitabständen wiederholen. Aber Gewerkschaften und soziale Bewegungen sollten schon jetzt Demonstrationen für den Herbst ankündigen und konkret vorbereiten. Bis dahin sollten Protestaktionen und Aufklärungsarbeit vor Ort verstärkt werden. Dabei sollte die direkte Auseinandersetzung mit Politikern von SPD und Grünen gesucht werden, etwa durch Veranstaltungen in Form von Streitgesprächen oder durch »Besuche« bei Bundestagsabgeordneten. Nicht mit der Illusion, jeden überzeugen zu können, sondern mit dem Ziel, die Politiker den Zorn über ihre Politik spüren zu lassen. Der Aufenthalt im Wahlkreis muss für Abgeordnete ein genauso unangenehmes und eindrückliches Erlebnis sein wie ein disziplinierendes Vier-Augen-Gespräch bei Franz Müntefering. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung empfindet die Agenda 2010 als ungerecht und lehnt sie ab. Dies belegen Umfragen. Andererseits hält aber auch eine Mehrheit »Reformen« für unausweichlich. Die neoliberale Ideologie ist ja deshalb so wirkungsmächtig, weil sie an konkrete Alltagserfahrungen wie etwa dem verschärften Konkurrenzkampf der Unternehmen oder Arbeitsplatzabbau anknüpfen kann. Hier gilt es, Mythen und weit verbreitete Glaubenssätze zu knacken. Zum Beispiel: Kern der Arbeitsmarktmisere ist nicht, dass Arbeitsplätzen ins »billigere Ausland« verlagert werden, dass sie wie in einem System kommunizierender Röhren hier zu Lande verloren gehen und anderswo neu entstehen. Arbeitsplätze werden primär abgebaut, weil mit immer weniger Arbeitsstunden immer mehr Waren geschaffen werden und die Nachfrage hinter dieser Produktivitätssteigerung hinterherhinkt. Es gilt, die lähmende Logik des »kleineren Übels« aufzubrechen. Viele Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften treibt die Sorge um, dass die Proteste gegen die Agenda 2010 der schwarz-gelben Opposition in die Hände spielt. Nur: Rot-Grün ist nicht das kleinere, sondern ein ganz »besonderes Übel« (IG BAU Chef Klaus Wiesehügel). Die Vorlagen der Regierung sind geradezu eine Einladung an die Opposition, noch was draufzusatteln. Wer die noch dreisteren Absichten der Opposition verhindern will, muss somit die Regierungspläne bekämpfen. Denn die Agenda 2010 ist nicht die bessere Alternative zum »größeren Übel«, sie ist dessen Wegbereiter. Martin Künkler arbeitet seit 1999 für die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen; www.erwerbslos.de
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