Schweden handeln individuelle Löhne aus

Schwächung der Tarifverträge bringt auch Frauen Nachteile

  • Bernd Parusel, Stockholm
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.

Frauen verdienen auch in Schweden deutlich schlechter als Männer. Ein Grund dafür ist, dass immer mehr Arbeitgeber nicht nach Tarifverträgen bezahlen.

Einer neuen Studie des schwedischen Gewerkschaftsverbandes LO zufolge absolvieren Frauen in Schweden heute genauso lange Ausbildungszeiten wie Männer und erwerben eine fast gleichwertige Berufserfahrung. Dennoch klafft zwischen den Einkommen der beiden Geschlechter eine tiefe Lücke. Es gebe »unterschiedliche Lohnsysteme zwischen Männern und Frauen auf dem schwedischen Arbeitsmarkt«, erklärt die Autorin der Studie, Anna Thoursie. Sie bezeichnet ihr Land als eine »Klassengesellschaft«, in der Frauen in nahezu allen Bereichen des Arbeitslebens benachteiligt werden. Nach Angaben des statistischen Zentralbüros verdienen weibliche Arbeitskräfte gegenwärtig nur rund 83Prozent der Männergehälter. Dieser Wert ist seit zehn Jahren ungefähr gleich. Mit dem Wert war Schweden in Sachen Gleichberechtigung einmal führend gewesen. Inzwischen sind die Löhne in manchen anderen Ländern - Belgien und Luxemburg - heute ausgeglichener. Anna Thoursie schlägt als mögliche Gegenmaßnahme vor, typische »Frauenberufe« wie Krankenschwester besser zu bezahlen. Die schwedische Linkspartei sieht bei den Arbeitsverhältnissen von Frauen auch »direkte Diskriminierung« am Werk und will sich stärker für gerechtere Löhne einsetzen, wie Parteichef Lars Ohly kürzlich versprach. Betroffene vermuten hinter der Lohndiskriminierung auch die Tatsache, dass immer weniger Arbeitgeber nach kollektiven Tarifverträgen bezahlen, sondern stattdessen Löhne »individuell« festsetzten. Nach diesem Prinzip, dass sich im öffentlichen Dienst Schwedens schon zu Beginn der 90er Jahre durchsetzte, handelt jeder Angestellte seinen Lohn direkt mit seinem Arbeitgeber aus. In die Höhe des Lohnes fließen verschiedene Kriterien ein, etwa die Anforderungen der zu verrichtenden Arbeit, die Kompetenz des Bewerbers, oder auch eher »weiche« Kriterien wie Flexibilität oder Teamgeist. Die meisten Parteien und Gewerkschaften akzeptieren diese Art der Lohnfestsetzung heute oder befürworten sie sogar aktiv. »Die Löhne sollen individuell sein und sich an Arbeitsinhalten, Kompetenz und Arbeitsresultat orientieren«, heißt es etwa in einem Grundsatzpapier der Angestelltengewerkschaft Sif. Kollektivverträge nach dem Motto »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« bilden heute - auch über den öffentlichen Sektor hinaus - oft nur noch eine Art Hintergrundvereinbarung. Was dem einzelnen Angestellten am Monatsende ausbezahlt wird, muss er selbst verhandeln. Eine Umfrage unter Bezirksvorsitzenden der Gewerkschaft Kommunal ergab kürzlich, dass nur 16 Prozent der Mitglieder dieser Art der Lohnfestsetzung positiv gegenüber stehen. Die »individuellen« hätten viel zu große Einkommensunterschiede geschaffen, erklärte eine in einem südschwedischen Pflegeheim angestellte Krankenschwester dem Gewerkschaftsblatt »Kommunalarbetaren«. Man wolle keine »individuellen« Löhne, weil alle die gleiche Arbeit machten und eine vergleichbare Ausbildung hätten. Der für Tarifverträge zuständige Kommunal-Sekretär Håkan Pettersson meint dennoch, die Individualisierung sei der »richtige Weg«. Die schrittweise Abschaffung der Kollektiv-Tarifverträge habe den Arbeitgebern die Möglichkeit gegeben, ihre Belegschaften zu spalten, räumt dagegen der schwedische Elektrikerverbund ein. Angestellten, denen es schwer falle, in Verhandlungen mit dem Chef selbstbewusst ihre Qualifikationen zu betonen und offensiv entsprechende Bezahlung einzufordern, hätten oft das Nachsehen. Dies gelte insbesondere für Frauen, Einwanderer oder Jugendliche. Außerdem, so bemängeln die Elektriker, fördere die individuelle Lohnfestsetzung Neid. Die Beschäftigten heute ihre Löhne untereinander, an...

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