nd-aktuell.de / 17.11.1995 / Kultur / Seite 12

Kunst aus Schmerz

BENJAMIN JAKOB

„Im September 1925 stieß eine Straßenbahn in den klapprigen Bus, in dem sie saß, brach ihre Wirbelsäule, ihr Schlüsselbein, ihre Rippen, ihr Becken. Ihr bereits verkümmertes Bein wurde elfmal gebrochen. Ihre linke Schulter blieb für immer ausgekugelt, einer ihrer Füße wurde zerschmettert. Eine Haltestange drang ihr in den Rücken und trat durch die Vagina wieder aus. Nach dem Aufprall lag Frida nackt und blutig am Boden, aber mit goldenem Staub bedeckt.“ Carlos Fuentes über Frida Kahlo: Das Unglück, so glaubt der mexikanische Dichter, sei für die damals 18jährige Endpunkt und Stunde Null zugleich gewesen. Der Traum von einem halbwegs „normalen“ Leben zerplatzt, das Martyrium noch nicht zu ahnen, dieser Leidensweg - knapp drei Jahrzehnte Schmerzen, Verfall in Stufen, mehr als dreißig Operationen bis zum frühen Tod. Aber in der Katastrophe von 1925 wurde die junge Frau wiedergeboren. Als Malerin. Einzigartig, beispiellos. Frida Kahlo hat Schmerz in Kunst verwandelt. „Ich male mich selbst; weil' fdh ! allein'bin' Tcn bin der Gegenstand, den ich am besten kenne.“ Diese Bilder erheben und erschüttern den Betrachter, zeigen sie doch zur selben Zeit Triumph und Ohnmacht des Geistes: Auch auf den Tapfersten wartet der Tod.

Fridas Arbeiten sind bekannt, ihre Lebensumstände vertraut bis ins kleinste. Da, auf einmal, erscheint diese Sammlung intimer Aufzeichnungen aus den letzten zehn Lebensjahren. Nicht der Alltag wird reflektiert, sondern die Gemütsbewegung; der Zustand im Innern, nicht der Zustand der Welt. Tagebuch aus Wort, Klang, Farbe, Symbol. Kritzeleien und surrealistische Ge-

Frida Kahlo: Gemaltes Tagebuch. Einführung von Carlos Fuentes. Kommentare von Sarah M. Löwe. Kindler Verlag München. 296 S., Leinen, 68 DM.

dichte, Aquarelle und Briefe, Buntstift, Tinte, Wasserfarbe. Ein Zeichen verdeckt das andere, jede Zeichnung überlagert eine ältere, das Gemalte verdrängt das Geschriebene, ergänzt und löscht es aus. Politische Statements findet man („Lenin lesen - Stalin - Lernen, daß ich nur ein .verdammt' kleiner Teil einer revolutionären Bewegung bin“) und immer wieder Liebeserklärungen an Diego Rivera: Malerkollege und Konkurrent ist er gewesen, Ehemann und enger Freund, ein Treuloser, Getreuer, Fridas alter ego. Der Elefant neben der Taube, die Schöne und das Biest. „Diego. Ich bitte dich um Gewalt, im Sinnlosen, und du, du gibts mir Anmut, dein Licht und deine Wärme.“ Eines der anrührendsten Bilder schmückt die Rückseite vom Schutzumschlag der Ausgabe: Auf einer antiken Säule hängt eine Marionette, weiblich; 1 mit“ abgerissenen Gliedern., Auge, Hand, Gesicht fallen zu Boden. „Ich bin die Auflösung“, steht darüber.

Verlag und Herausgeber haben den Zugang zum Werk nach Kräften erleichtert durch Fuentes' Essay, mit Kommentar, Übersetzung, Erläuterung. Doch das Diarium, im Faksimile, hat selbst ohne Beiwerk suggestive Wirkung: durch die Gewalt seiner Farben und Formen. Einen Moment glaubt der Betrachter gar, den Schatten einer Hand zu sehen, den flüchtigen Pinsel. Und die Fingerkuppen wollen welliges Papier erkunden, Kontur und Strich, das rote genarbte Leder des Einbands.