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Mutter Teresa vom Hauptbahnhof

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MonDr7CHRISTimmATTE(TeXt)k und JOACHIM F1EGUTH (Bild)

aber hier nur Gastrecht genießt, reißt sich gerade noch zusammen: „Nun, das ist nicht unser Thema, zeigen Sie mal Ihre Hand her!“ Der Ukrainer hat sich verbrannt, jemand hat vielleicht geholfen. De la Torre will es nicht wissen. „Ich bin keine Petze, ich bin Ärztin. Wenn jemand Leichen im Keller hat, muß er das selbst verantworten.“

Dann A. Höchstens 30, seit zwei Jahren Kreuzberg. Keine Arbeit, keine Versicherungen. Er kann die linke Hand nicht bewegen. Die Rettungsstelle Friedrichshain habe ihn morgens abgewiesen, nicht mal geröntgt. Er soll die Hand auf den Tisch legen, damit De la Torre sie abtasten kann. Nichts gebrochen, nur geprellt. A. weiß nicht so recht, er ist noch skeptisch. „Die Frau Doktor versteht was davon, sie ist nämlich Kinderchirurgin“, betuttelt Frau Hoffmann den jungen Patienten. „Jetzt hören Sie auf, wird sie angepfiffen.

Frau Hoffmann denkt nicht immer daran, daß De la Torre auch nur ein Mensch ist. Man vergißt das, wenn jemand so souverän mit dem Elend anderer umgeht, man kann sich dann nicht vorstellen, daß so jemand wie jeder andere leidet. Dabei ist es wahrscheinlich der Preis, den man zahlt, um kein Eisblock zu werden.

Später, beim Kaffee, erzählt De la Torre, was ihr die Chirurgie bedeutet: Die sei ein Lebenstraum gewesen. Sie hat ihn schon in Puquio geträumt, in den peruanischen Anden; dort verlebte sie ihre Kindheit. Eine Szene hat sich ins Gedächtnis gebrannt: Sie ist sieben, ihre. Mutter wird krank. Während der einzige Arzt des Städtchens ihre Mutter noch untersucht, kommt ein Nachbarjunge gelaufen, sein Vater habe einen Infarkt. Sie hat ihm damals erklären müssen, er müsse Geduld haben und warten, weil der Arzt noch nicht wegkönne. „Damals stand fest, ich werde Ärztin. Und zwar eine Ärztin für Kinder, nur das kam noch für mich in Frage. Ich dachte, wenn ich später mal die einzige Ärztin für sie

bin und jemand kommt mit 'nem vereiterten Blinddarm, muß ich operieren können. Ich dachte, wenn ich Chirurgin werde, erfasse ich damit ganz viel, auch Allgemeines und Inneres.“

Sie hat hart gearbeitet für ihren Traum. Das erste Jahr studierte sie an der Universität von Ica. Ihr Vater habe sie unterstützt, er besaß eine kleine Kupfermine. Trotzdem mußte sie Kredite aufnehmen, für Bücher und für Studiengebühren. Damals sei sie in Kuba gewesen, auf Einladung von Fidel Castro: „Wir waren in der Botschaft zu Gast, plötzlich im Saal ein Raunen: Da ist er! Ich drehte mich um, da stand ein Riese mit wunderschönen blauen Augen. Auf einmal haben alle geweint - nicht nur Studenten, auch Bergarbeiter.“ Kurz darauf sei ihr Vater verunglückt und konnte nicht mehr arbeiten. Durch Zufall habe sie erfahren, es gebe eine Möglichkeit, in die DDR zu gehen, dort bekomme man ein Stipendium...

Herder-Institut in Leipzig und Karl-Marx-Universität. Sie war „glücklich, in einem Land, das sozialistisch war, Ärztin zu werden“ Sie habe es mit Peru verglichen: „Die Menschen hier konnten lernen und wohnen, und wenn sie krank waren, konnte der Arzt ihnen ein\Rezept ausstellen und damit zur Apotheke schicken.“ Andererseits fand sie es komisch, daß einige Kommilitonen sie mieden. „Ich dachte: Wieso darf ich hier studieren, wenn sie nicht mit mir reden wollen? Ich wollte auch in die FDJ. Zwei Mal bin ich hingegangen, ich habe ihnen gesagt: Ihr müßt kämpfen! In Ica sind wir auf die Straße gegangen, weil wir für 200 Studenten nur sieben Mikroskope hatten. Sie wollten nicht, daß ich wiederkomme.“ Irgendetwas, merkt sie, stimmt nicht. „Ganz zuletzt, an der Charite, war sogar Infusionslösung knapp.“

Über die Charite ist sie immer noch nicht weg. In der Kinderchirurgie, bei Prof. Mau,

hat sie ihren Facharzt gemacht. Als '89 die Mauer fiel und Kollegen die Klinik verließen, hielt sie mit denen, die dablieben, erst mal den Betrieb aufrecht. Ihre Doktorarbeit blieb liegen. Ein Anruf von der Akademie: Da sie die Dissertation nicht schafft, habe sie innerhalb eines Monats die Charite und das Land zu verlassen.

Mehr sagt sie nicht über die Charite. Es ist immer noch ihre Klinik. Dafür spricht sie von Prof. Gdanietz. Der war damals noch Präsident der Kinderchirurgischen Gesellschaft und half ihr, als sie ihn darum bat: Er gab ihr zunächst vier Wochen, um ihre Arbeit vorzubereiten. Als sie ein Gerippe vorlegte, und es taugte was, machte er mit ihr weiter De la Torre arbeitete wie ein Tier, nachts jobbte sie in einer Rettungsstelle. Am 2. Oktober, einen Tag vor der Vereinigung, reichte sie die Arbeit ein. Im November verteidigte sie.

De la Torre baut sich auf: „Wenn ich nicht Chirurgin wäre, könnte ich hier nicht arbeiten. Ich muß Wunden behandeln, nähen, Diagnosen stellen, Abszesse aufmachen.“ Frau Hoffmann ruft: „Wer ist der nächste?“

Der nächste braucht einen Krankenschein. Mann, hat er einen Schnupfen, schnieft er. In Wirklichkeit, sieht De la Torre, ist er so gesund wie Schwarzenegger. Den Krankenschein braucht er fürs Sozialamt, das ihm die Sozialhilfe kürzt, wenn er nicht gemeinnützig arbeitet. Das heißt: Saubermachen im Park, täglich vier Stunden a drei Mark. Schwarz verdient er natürlich besser. Frau Hoffmann ist ein bißchen pikiert, daß jemand schwarz arbeiten geht, sie hebt schon die Stimme, um zu wettern, da schneidet ihr De la Torre das Wort ab: „Wir sind nicht hier, um zu predigen. Wenn er das für sich entschieden hat und diese Stadt so etwas zuläßt...“ Den/Krankenschein kann sie ihm nicht geben. Er würde ihm sowieso

nichts nützten. Sie erklärt es ihm, er versteht es. Frau Hoffmann wundert sich hinterher: „Der hat immerzu gelächelt. Frau Doktor, so was irritiert mich.“ De la Torre winkt ab: „Es war ihm peinlich. Die Gesellschaft macht ihm vor, daß er dies und das haben muß, um ein richtiger Mensch zu sein. Daß er ein richtiger Mensch sein will, kann man ihm nicht vorwerfen.“

“In PeraiffiWW'Törre luf einem Marktplatz J mal->,emen Bettler gesehen. „Er war völlig zerlumpt. Die Lumpen hingen in Fetzen von seinem Körper. Aber dieser Mann war so fröhlich. Hunger ist nicht so schlimm, wenn man ihn teilt, wenn die Menschen kommunizieren.“ Die Deutschen kennt sie seit zwanzig Jahren, eines versteht sie bis heute nicht: Daß es im reichsten Land der Welt so viele einsame Leute gibt.

An Puquio muß sie oft denken. Dort habe sie mehr gelernt als an Unis: Zum Beispiel Quechua, die Sprache der Inkas, der peruanischen Ureinwohner. Mit diesen Kindern habe sie gern gespielt und begriffen, man muß sich nicht schämen, mit armen Menschen umzugehen. Sie nennt Puquio ein Paradies: „Wir hatten ganz viele Beziehungen, auch zu Hunden, Katzen und Enten. Nur zehn Minuten bis zum Fluß, wo wir mit den Händen Figuren kreierten. Keine Konserven, alles Natur - selbst Brötchen haben wir selbst gebacken.“ So eine Kindheit wünscht sie auch Eduardo. Als läge zwischen ihm und diesen Bildern nicht nur die halbe Welt, sondern auch eine Ewigkeit. Puquio ist heute so gut wie verlassen. Nur wenige Leute leben noch dort, auch ihre Familie ist weggegangen. Eduardo ist noch nie dagewesen.

Eduardo ist zehn, ihr Sohn. Sie lebt mit ihm allein. Ihre Beziehungen in Deutschland seien nicht sonderlich glücklich gewesen. Sie habe sie immer so geführt, als ob sie morgen zurückginge; vielleicht sei das ein Fehler gewesen. '82, nach dem Diplom, ist sie tatsächlich nach Hause geflogen. Ihr Vater trug seinen besten Anzug und ihre Mutter ihr schönstes Kleid, als sie mit ihr zur Verwaltung gingen, wo sie sich zurückmeldete. Dort wurde ihr Abschluß nicht anerkannt; sie hätte faktisch nochmal studieren müssen. Beim zweiten Mal war sie schon promoviert - ihr Facharzt wurde nicht anerkannt. Sie hätte sich als Aktionärin in eine Privatklinik einkaufen können; dazu fehlte ihr das Geld. „Ohne Pate keine Taufe“, zitiert De la Torre trokken ein Sprichwort. „Dabei waren die Wartesäle in den staatlichen Praxen voll, es gab viel zu wenig Ärzte.“

Die Welt scheint durchgeknallt zu sein. De la Torre sagt: „Ich kann mich nicht wenden. Ich habe doch Augen, um zu sehen, ich kann mich doch nicht blind stellen. Es muß eine menschliche Welt geben.“

Man wird nicht als Mutter Teresa geboren, man wird dazu gemacht. „Seit der Sendung“, plaudert Frau Hoffmann aus, „kriegt sie Stellenangebote. Sie hat sich aber noch nicht entschieden.“ De la Torre überlegt noch. Jetzt die Koffer zu päkken und abzuhauen, käme ihr wie Verrat vor. Und eigentlich macht sie ja hier genau das, was sie immer machen wollte: Menschen helfen, die in Not sind. „Ich habe im Leben so viel bekommen, jetzt kann ich etwas davon geben.“

Herr Hensel lärmt schon vor der Tür- „Hallo, Frau Doktor, da bin ich wieder! Ich habe sie neulich im Fernsehn gesehen!“ Dann entblößt er seine Beine: Rot, blau, dunkelviolett, die Haut ist kurz vorm Aufplatzen. De la Torre meint, er braucht Pflege: Er soll in die Magdalenenstraße, auf die Krankenstation der Diakonie, sonst muß sie ihn nach Buch einweisen. Hensel wird trotzdem nicht hingehen, wegen des Alkoholverbots. „Ich frage nach, ob sie ankommen“, versucht De la Torre, ihm Dampf zu machen. Eine Drohung wie ein Streicheln, sonst fragt keiner, wo er hingeht. „Na gut“, sagt er, „werd' ich mal losmachen mit meine ollen Paddelbeene. Dann brauche ich aber frische Wäsche. Sonst halten die mich für ein Dreckschwein, wenn ich unter die Dusche steige.“ De la Torre sieht ihm ins Gesicht: „Für mich sind Sie kein Dreckschwein, Herr Hensel. Wenn alle Leute so sauber wären...“ *

L. hat eine schwere Bronchitis, S. eine Mittelohrentzündung, und M. hat einen Plan. Er schläft seit Wochen in der ?S-Bahn, und letzte Nacht, zwi- 1 sehen Zoo und Treptow, hat der Plan Gestalt angenommen! Jetzt trägt er ihn De la Torre vor, sie hat eine Aufgabe zu erfüllen: Sie soll ihm bescheinigen, daß er ein Zelt braucht und einen Schlafsack. Mit dem Schein will er in ein Geschäft gehen, dort müsse man ihm dann die Sachen geben. „Mit einem Zelt und einem Schlafsack war' ich viel besser drauf, Frau Doktor.“ Frau Hoffmann fürchtet: „Das wird wohl nischt werden.“ De la Torre sieht das anders. „Warum denn nicht, Sie kriegen den Schein. Er berechtigt Sie zu nichts, doch ich schreibe auf: M. ist krank. Auf ein Zelt und einen Schlafsack ist er dringend angewiesen, damit er gesund werden kann. Mal sehen, ob Sie Glück haben.“ M. bittet noch um einen Stempel, De la Torre hat keinen. „Es geht auch so“, versichert sie, „ich unterschreibe mit meinem Namen.“

M. war der letzte für heute, Frau Hoffmann raucht noch eine Zigarette. Ihre Munterkeit ist weg, als hätte es sie nie gegeben. Sie hat Sorgen, die kann sie nicht wegdrängen: Im Mai könnten hier die Lichter ausgehen, und sie hat höllische Angst davor, wieder arbeitslos zu werden. De la Torre hat keine Angst: „Sie werden nicht arbeitslos, Frau Hoffmann. Glauben Sie mir, ich verspreche es Ihnen. Wir machen weiter mit unserm Projekt, wenn nicht, geh' ich auf die Barrikaden. Ich habe nichts mehr zu verlieren.“ Irgendwie muß Frau Hoffmann ihr glauben, denn irgendwie wirkt sie beruhigt. De la Torre zieht ihren Kittel aus, zu Hause wartet Eduardo. Vielleicht zerstreut sie sich auch mit Freunden: Isabelle Allende, Pablo Neruda, Goethe, Storm, Jose Marti. Marti kann sie aus dem Stand deklamieren: Der Schlüssel des Lebens ist die Pflicht. In dem, was man tut, soll man sich nicht von dem Wunsch leiten lassen, gut dazustehen. Und nicht von der Angst, schlecht dazustehen...

Da steht sie: 1.56 Meter. Warme, braune Augen hinter der Brille, ein Pagenkopf, tiefschwarz und glänzend. Zu schön, um wahr zu sein. Na gut, das klingt etwas abgeschmackt, doch etwas besseres fällt mir nicht ein. Ich bin nicht besonders geübt darin, eine Heilige zu beschreiben.

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