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  • Politik
  • Der »Salzige See« meldet sich zurück - Strohhalm für das Mansfeldische

Seeblick

  • Christina Matte (Text) und Joachim Fieguth (Bild)
  • Lesedauer: 10 Min.

Ein bißchen ist es wie ein Wunder Wenn die Leute hier sagen: »Der See kommt wieder«, klingt ein fast kindliches Staunen mit. Zwar hat es über all die Zeit immer diesen und jenen gegeben, der es genauso verkündet hat (»Nach hundert Jahren«, ging das Gerücht, »ist er wieder da, der See«), doch geglaubt hat es kaum einer Jetzt haben die Löcher sich aufgefüllt, der Wasserspiegel ist gestiegen.

Otto Thieme gefällt das nicht. Er hat sein Rad an eine Pappel auf dem Anisdorfer Friedhof gelehnt, sein Blaumann ist bis zum Hals zugeknöpft und wie ein Sonntagsanzug gebügelt, die Sonne kleckst Licht darauf durchs Laubdach, so daß Thieme blinzeln muß und die leichte Schirmmütze tiefer über die Augen zieht. Wie jeden Tag besucht er Dora. »Wenn der See wiederkommt, muß Dora weg.« Dora ist seine Frau. Die Wiese, unter der .sie liegt, wurde bei Sonnenaufgang gemäht. Der leichte, herbe Duft von Kräutern und der von Rosen, süß und morbide. Die Gießkanne wird Thieme schon schwer, über kurz oder lang, weiß er, wird er zu seiner Dora ziehen. »Die ganze schöne Anlage, grausam, wenn die wegmüßte.« Irgendwas, hofft er, wird erfunden: »Irgendwas, was das Wasser drosselt, irgendwas Automatisches.«

Daß es so was »Automatisches« längst gibt, hat der alte Mann wahrscheinlich vergessen: Als vor hundert Jahren der Kupferbergbau in der Mansfelder Gegend begann, mußte der See abgepumpt werden. Pumpstationen wurden gebaut, sie arbeiten seither Tag und Nacht. Die Einheit brachte dem Bergbau das Ende. Nun fressen die Pumpen nur noch Geld. Besser, sie werden abgestellt.

»Wir fahren jetzt mitten durch den See.« Tilo Schiemann breitet die Arme zu einer ausufernden Geste: Wasser, so weit das Auge reicht, blitzende Wellen, Surfer, Schwimmer... Dann fallen seine Arme runter, stürzen wie Flugzeuge vom Himmel: »Nur, damit Sie mal eine Vorstellung kriegen, wovon wir hier eigentlich reden.« Links und rechts Felder, Roggen und Weizen, Disteln, Klatschmohn, Buschwindröschen, Hochspannungsmasten, Bussarde. Wir dümpeln über -die B 80, Schiemann hat uns gewarnt, eine

Stoppfalle. »Die Straße soll dann, wie es aussieht, auf Hochstelzen gestellt werden. Die Hochspannungsleitungen müssen weg, Abwässer müssen umgeleitet, Altlasten entsorgt werden... Zehn bis fünfzehn Jahre dauert's, bis wir das hier fluten können.«

Schiemann phantasiert nicht. Die Vision, von der er spricht - Otto Thieme hat es nicht mitgekriegt - hat schon einen Fuß in der Tür. „Kaum hatte der See sich zurückgemeldet, schmiedete hier alles Pläne.« Was Schiemann nun nicht für ein Wunder hält: Immerhin war der »Salzige See«, bevor er dem Bergbau weichen mußte, der größte See in Mitteldeutschland. Nun soll er als größter See Sachsen-Anhalts wiederkehren. Schon hat sich das Land dazu bekannt, im nächsten Jahr sollen bereits 25 Millionen fließen. Als Bürgermeister von Wansleben vertritt Schiemann seine Gemeinde in der Entwicklungsgesellschaft des Seegebietes...

»Da muß viel bedacht werden«, meint er. Beispielweise die Füllhöhe - von ihr hängt ab, welche Häuser einmal an der Strandpromenade Top-Lage haben und welche abgerissen werden. »Überhaupt«, sagt Schiemann, »die Flächennutzung. Da müssen wir jetzt aufpassen, daß wir keine Spekulanten herkriegen: Jemand wollte uns schon ein Motel aufschwatzen, da muß man erst mal abwarten.« Für den Flächennutzungsplan habe man Änderungssperre verhängt, »erstmal zwei Jahre«, verkündet er Die Arme beginnen noch mal zu kreisen, aber sie schaffen es nicht zu fliegen: »Das ganze Ostufer gehört uns. Dort hinten kommt ein Campingplatz hin, davor ein Segel- und Yachthafen. Sanfter Tourismus soll das werden, naja, darauf hoffen hier viele...«

An den Tourismus glaubt er nicht so richtig. »Wer soll denn hierher kommen? Wer soll denn hier baden?«, möchte er wissen. Er dirigiert uns zum »Süßen See«, einem See in der Nachbarschaft, den der Osten vielleicht noch kennt, wenn er ihn nicht vergessen hat, weil er sich jetzt am Mittelmeer sonnt. »Ein Tümpel«, findet er, »dicke Brühe. Wenn es mal vierzehn Tage heiß ist, muß Badeverbot verhängt werden. Kein Magnet, der die Leute anzieht. Der neue See wird zwar dreimal so groß, aber deshalb auch nicht besser. Vom Tourismus kann hier keiner leben.«

Schiemann. 80 Kilo, kein Träumer

Träumer müssen abheben können. PDS-Mitglied, arbeitslos. »Dipl.-mil.«; die zwei Silben verschluckt er. Dabei wäre das nicht nötig, den Wanslebenern ist es nicht wichtig. Statt mit uns um die Zukunft kreisen, will er uns lieber Wansleben zeigen: den Kindergarten, auf den er stolz ist, rumplige Straßen, ergraute Häuser, an der Ecke Teppichhändler Eine neue Grundschule, sozialer Wohnungsbau in der alten. Kaliabraum, eine Halde, sie strahlt weiß, es ist schönes Wetter. Ein ausgekohlter Tagebau, neu angepflanzte Büsche und Bäume. »Unsere Menschen haben damals« - unsere Menschen, das sagt er wirklich - »das Nationaleinkommen erwirtschaftet. Behalten durften sie davon wenig.« Seit dem Ende des hiesigen Bergbaus sei jedes zehnte Gemeindemitglied nach Halle-Neustadt abgewandert. Von den Hiergebliebenen sei jeder fünfte arbeitslos...

Hier wird der schwere Mann doch noch leichtfüßig: »Wer bestellt, bezahlt«, sagt er. Fünfzehn Jahre Erschließung, hofft er, das sind erstmal fünfzehn Jahre Arbeit. »Ein Friedhof und zwei Sportplätze müssen komplett umgesetzt werden.« Und wenn der See erst mal da ist, glaubt er, könne er gegen die »Platte« antreten, die Leute wieder nach Hause holen. Das würde den Haushalt aufbessern. »Wir bauen eine Schwimmhalle. Da wissen Sie, wo wir baden werden.«

Im Seebett, bei Rohlingen, steht ein Haus. Die scheckige Katze gehört hierher, sie setzt elegant von der Sandsteinböschung. In den Steinlöchern brüten Bienenfresser. Wunderschöne bunte Vögel, deren Existenz Schiemann seinen Wanslebenern verschweigt, »weil die sich sonst ihre Büchsen schnappen, um sich so ein . Ding zu schießen.« Der Mann, der hier wohnt, hat kein Gewehr. Auch keinen Namen für die Presse. Die Frau möchte auch nicht benannt werden. »Die Menschen haben uns enttäuscht, deshalb leben wir ja hier.«

Der Mann war früher Kupferkumpel. Jetzt ist er 70 und krumm und müde. Hinterm Haus zieht er »bissei Gemüse«. Einsamkeit. Die Schweinemast des VEG wurde abgerissen. Auch das Haus wird verschwinden müssen. »Von mir aus kann er kommen, der See. Oder auch nicht«, nuschelt der Mann. »Interessiert

uns nicht«, sagt die Frau. »Die paar Tage, die wir noch haben, wird das Haus hier wohl noch stehen.«

Über den Amsdorfer Kleingärten, über Petersilie und Zwiebeln kräuselt sich ein Rauchfähnchen. Günter Markgraf stochert lahm in der glühenden. Holzkohle. Er hat keine Wurst auf dem Rost, er will den Grill »nur mal durchheizen«. Wochentags ist er hier draußen allein, er kommt gern auf ein Wort zum Zaun. Klar, die Anlage muß weg! Nein, er hat damit keine Probleme. »Ganz im Gegenteil, ich bin froh, daß ( der Jarten endlich wegkommt.« Er wischt sich die Hände am T-Shirt. »Nee wirklich, ich will den Jarten nicht. Meine Freundin ist die, die ihn will. Ich bin hier bloß meiner Freundin zuliebe.« <

Markgraf kann nicht so lange am Zaun stehen, Bandscheibenschaden. Er war Lokführer. Doch an seinen Grill will er auch nicht gleich wieder: Sicher, er sei für den See! Nicht nur, weil er den Garten loswerden will, sondern weil er im Umweltverein ist. »Das kam so«, holt er aus, »ich war '89 Freiwillige Feuerwehr. Wir haben die Demos abgesichert, da waren viele Grüne bei.« Er versucht, es zu erklären: »Ich bin nicht mehr jung, schon 44. Ich hab' immer hier gelebt, hier war immer Dreck, der hat nicht gestört.« Jahrzehntelang sei in der Gegend ein geflügeltes Wort kursiert: Wer ein Schwein klaut, ist saublöde. Die Kripo braucht bloß zum Stall zu gehen, die 1 Spuren in der Asche zu lesen, die fingerbreit auf dem Boden liegt, dann faßt sie ihn todsicher, den Dieb. Doch '89 hätten die Umweltschützer die Asche von den Höfen gekehrt, in Eimer geschippt und dem Braunkohlenwerk »Gustav Sobottka« vors Tor gekippt. »Irgendwie bin ich dabeigeblieben.«

Den See möchte Markgraf lieber heute als morgen. Selbst, »wenn der Wasserstand so hoch wird, daß Amsdorf nichts als Mücken abkriegt.« Die Leute hier seien nicht scharf auf Tourismus, man wolle keinen Yachthafen bauen und keinen Golfplatz wie Rohlingen. »Wenn man gesund bleibt, ist das schon viel.« Nur: Es dauert viel zu lange. Er hat den Verdacht, es dauert noch ewig. »Da werden jetzt Jutachten erstellt. Dann braucht man neue Jutachten, dann noch welche und

wieder neue... Da wollen bloß viele Leute von leben.« Er sagt es, als wenn das schlecht wäre.

Am Rande der Löcher, in denen der See wächst, parkt kurzzeitig ein PKW Die Insassen sind ausgestiegen und schauen in die Ebene. Lokaltermin für drei Ingenieure der haas consult GmbH Halle. Sie stellen ein paar der »Jutachten«, die Günter Markgraf aufregen. Vorplanung nennt es Frau Grünig. Sie ist Fachgruppenleiterin für Tagebau- und Umweltsanierung und bereitet mit ihren Kollegen »langfristig« die Friedhofsverlegung vor. »Nicht jeder Boden eignet sich. Er muß gut sein, mit niedrigem Grundwasser.« Die jungen Leute an ihrer Seite hören ungerührt zu, sie sind Profis. Hydrologische Untersuchungen haben ja auch nichts Gruseliges. Zumal die Ergebnisse hoffnungsvoll stimmen: Schiemanns Ängste hinsichtlich schlechter Wasserqualität bestätigen sie jedenfalls nicht. »Am Süßen See«, polemisiert Frau Grünig, »wurde Obstanbau betrieben. Intensive Bewirtschaftung! Das Wasser wird besser, seit damit Schluß ist.« Für den »Salzigen See«, der »agrarisch genutzt wird«, müsse man jetzt schon Vorsorge treffen...

Die Skeptiker versteht sie nicht. »Erst heute«, sagt sie, »hat ein Leserbrief in der <Mitteldeutschen> gestanden: Man soll glauben an den See. Ohne Glauben wird es nichts. Ja, und wenn's mit dem See nichts wird, welche Chance haben denn die Leute? Wenn sie mich fragen, ich sage: keine.«

Helmut Lohöfener hat einen Brief gekriegt. Vom staatlichen Amt für Umweltschutz. Darin wird um Angaben zu seiner Bewirtschaftung gebeten. »Die wollen von mir Angaben«, schimpft er, »aber mir geben sie keine. Jeder hier denkt und plant und macht mit, aber ich, als Betroffener, weiß nicht mal, wann Bürgerversammlungen sind.«

Der Bauer wohnt ein Stück weg, in Allstedt. Er hat die gesamte »Seefläche«, früher VEG Eisleben, von der Treuhand gepachtet. Phosphor, Kali, Kalk und Magnesium verwende er hier sowieso nicht: »Bei der Marktlage zu teuer.« Aber wenn er auch noch auf Stickstoff und Pflanzenschutz verzichten soll, dann nähere er sich einer Grenze. »Danri*'steht wirkllich die Existenz ^meiner zwei Männer auf dem Spiel.»

Noch schiebt Lohöfener es weg. Noch will er nicht wahrhaben, daß ein See so rücksichtslos wie eine Revolution sein kann und die, die im Wege stehen, wegspült. »Die tun grad so, als ob hier schon morgen der große Stöpsel gezogen wird! Nee, die sollen sich mal lieber auf die Schwerpunkte konzentrieren. Es gibt viel Arbeitslosigkeit...«

Wie hoch die Arbeitslosigkeit genau ist, weiß Dr. Manfred Festner noch nicht. Er wird sich damit befassen, sobald er dieser Tage sein Amt als Bürgermeister von Rohlingen antritt. »Ein Bergarbeiterdorf«, sagt er knapp. Es gibt Wörter, die Leben und Sterben beschreiben. Festner ist hier geboren worden. Er war Ingenieur im Braunkohlenwerk, inzwischen ist er Vorruheständler und spielt bei »Eintracht Amsdorf« Schach. Trotzdem weiß er noch nichts von dem Golfplatz, den er angeblich bauen will und von dem man in Amsdorf erzählt: »Das müssen wir alles erst mal sehen.»

Alles - Festner hat viele Probleme. »Ach«, meint er, »wenn's nur der See wäre.« Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer seien drastisch zurückgegangen: »Um 150 000 Mark!« Außerdem, das schmeckt ihm gar nicht, wird er seinen Röblingern womöglich ans Portemonnaie müssen: Auf der Gemeinde laste der Druck einer Abwasseranlage, »leider überdimensioniert, das muß mal geklärt werden.« Kein guter Start, aber Festner meint, er lasse sich nicht abschrecken. Weil er lieber lacht als weint. Und »wenn die Natur möchte, daß der See wiederkommt«, dann will er das auch! Eine Chance für Rohlingen!

Wie Schiemann ist Festner von der PDS. Auch sein Fraktionschef hat einen Sitz in der See-Entwicklungsgesellschaft. Noch werde um die Satzung gestritten. Wenn das Land, wie vorgesehen, 40 Prozent der Anteile hält, weitere 40 Prozent der Landkreis, blieben ganze 20 Prozent für die Anliegergemeinden. »Damit hätten wir höchstens ein Vetorecht, wir wären so was wie Statisten«. Statist wolle Rohlingen nicht sein, »wir wollen schon bißchen mitmischen. Vielleicht kommt ja mal bißchen Geld rein.« Denn anders als Schiemann glaubt Festner, »daß sich Leute aus Halle und Leipzig durchaus dafür interessieren lassen, bei Rohlingen Natur zu erleben«. Ihm gefallt es hier jedenfalls: »Naja, kein einödiges Land, hier gibt's schon ab und zu mal 'nen Hügel.« Er möchte nicht von hier wegziehen.

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