Majestät beleidigt

»Bild« beschützt Milbradt und Schröder

  • Michael Bartsch, Dresden
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
Das Blatt für anspruchsvolle Kulturkritik meint einen handfesten Theaterskandal in Dresden ausgemacht zu haben. Nein, keinen Kriegsekel und tanzende Torsi wie in der Csardasfürstin, sondern viel schlimmer. Einen garstigen Vers, pfui, einen politischen Vers hat sich die Inszenierung von Hauptmanns »Die Weber« auf die Obrigkeit gemacht. Der Chor der arbeitslosen Dresdner Weber des Jahres 2004 darf mitten auf der Bühne des Staatsschauspiels Bundeskanzler Schröder ein »Verräterschwein« und den sächsischen »Regierungsvorsteher« Georg Milbradt eine »blöde Sau« nennen. Die »Bild«-Zeitung, sonst bekanntermaßen um distinguierte Wortwahl bemüht, empörte das derart, dass sie nach der Berliner Serail-Entführung schon zum zweiten Mal in diesem Jahr einer Theateraufführung ihre kostbare Seite Eins widmete. Und zwar ausschließlich jenen bösen Worten. Über die weiteren zweieinhalb Stunden der Aufführung musste man im Blatt nicht unbedingt etwas erfahren. In denen ging es nur um tatsächliche oder bemühte Parallelen der Verlierer von heute zur Situation der schlesischen Weber 1844. Da sprach nur der überhaupt nicht antike und ganz authentische Weberchor, der nur aus einer Vielzahl Arbeitsloser besteht, die »Bild« als Leser natürlich nicht verlieren will. Und dieses Webervolk von 2004, dem kein Dichter aufs Maul schauen musste, verfasste seine Texte nach ureigenster Erfahrung auch noch selbst und erzielt damit eine Wirkung, die über die Hauptmannsche Originalvorlage weit hinausgeht. Von der Selbstanpreisung, der Massenprostitution auf der Arbeitsvermittlung über Ausgrenzungen und Verlustängste bis hin zu rührend-anarchistischen Träumen reichen diese Deklamationen. Das selbsttherapeutische Freischreien inklusive. Dann landen eben Milbradt und Schröder im verbalen Schweinestall, steigert sich die Szene zur physischen Attacke auf das Goldene Kalb, den goldbronzierten Daimler des Fabrikanten Dreißiger. Das war unter »Bild«-Niveau! Majestätsbeleidigung in Sichtweite der Staatskanzlei! Der Hinweis durfte nicht fehlen, dass diese Aufsässigkeiten auch noch aus Steuermitteln finanziert werden. Kunstminister Matthias Rößler (CDU) mochte solches vorrevolutionäre Agitproptheater auch nur bis zur Pause ertragen, will aber die Aufführung nicht kommentieren. Schauspielintendant Holk Freytag mühte sich in einem Brief an den Ministerpräsidenten, die Wortwahl in den Kontext der Aufführung zu stellen. Auch Regisseur Volker Lösch verteidigte mögliche Zornesausbrüche, wenn Menschen wie diese neuen Weber in einer ausweglosen Misere stecken. Ganz neurotische »Bild«-Hasser behaupten ja, das sensible Blatt übe unter dem Vorwand des Personenschutzes für die geliebte Staatsführung nur billigste Revanche. Auf der Dresdner Bühne prangte nämlich so hoch und so breit wie das Bühnenhaus die...

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