Rechts, links und andere ungeordnete Erinnerungen

»Ich hätte Gottfried Benn, er ich sein können.«
Johannes R. Becher

Es hatte an der Wohnungstür geklingelt, und er hörte auf zu schmökern. Die Mutter kam aus der Küche, und der Bettler kriegte, über die Türkette hinweg, ein Schmalzbrot. »Wir geben dem armen Manne was, wir sind ja reich!« Aber oft fand sich, eine Etage tiefer, das Almosen verschmäht am Flurfenster. Mein Vater, aus einer Familie mit 1848ern, nahm mich mit zu Aufmärschen für Rosa Luxemburg und Liebknecht, auch an eiskalten Tagen. Nach der Jahrhundertwende war er Mitglied der SPD geworden, nach dem Motto »Freiheit auf allen Gebieten«. »Das Kapital« hatte immer schon im Bücherschrank gestanden. Doch um es gleich zu sagen: Marx habe ich erst gelesen, nachdem man mich im Republikanischen Club Berlin mit »Genosse« angeredet hatte.

Der Knirps

Dass es »rechts« und »links« gab, lernte der Knirps nicht nur beim Schuhe anziehen. Der Beamte im Haus flaggte an Wahlsonntagen Schwarz-Weiß-Rot, mein Vater - Versicherungskaufmann - Schwarz-Rot-Gold; Kinder spotteten »Schwarz-Rot-Mostrich«. Die große Mehrheit der Verwandtschaft war konservativ bis reaktionär, im Besitz von Gaststätten und Kinos (Albrechtshof, heute Steglitzer Kreisel, Titania Palast). Mein Onkel, halbjüdisch, politisch beim deutsch-nationalen Ufa-Hugenberg-Konsortium, spendete Millionen für Hitler (die Tante: »Ist Hitler nicht ein wunderbarer Mann?«), um unbehelligt zu bleiben, konnte aber den Sohn nicht vorm »Heldentod« in Russland retten. Mein Lieblingsonkel, olympiareifer 800-m- Läufer, war »alter Kämpfer« der NSDAP und wurde als Steglitzer Gestapo-Chef nach der Niederlage »von den Russen abgeholt«. Es gab ein Ehepaar, das dem Knirps imponierte, Pfleger im Krankenhaus, per Motorrad fuhr es bis Spanien, Mitglied der KPD und Kuriere der Internationale. Beispiele - oder Zangengeburt meiner Weltanschauung im Schoß der Widersprüche des Beamtenkaffs?
In der City ein anderes Klima. Onkel Theo, mit Obststand in der Central Markthalle, wohnte am Bülowplatz beim KPD-Gebäude, ließ den Knirps Straßenschlachten erleben, empfahl als Katholik die Zentrums-Partei und wurde, Holländer, gelegentlich im Polizeipräsidium vernommen. Am Halleschen Tor bei der Oma lernte man die Marschkolonnen kennen, das Reichswehr-Musikkorps spielte »Denkste denn, du Berliner Pflanze«, die SA »Als die goldne Abendsonne«, Rotfront »Völker hört« und die Heilsarmee »Onward Christian Soldiers«. Was klang am schönsten?

Der Jüngling

1933 war ich 13. Die NSDAP kam an die Macht. Meine Eltern warnten, doch vorsichtig, SPD verboten, Vater mit KZ bedroht. Ich übergewechselt zum Kleist-Gymnasium Grunewald des Großbürgertums, des Militärs, des Adels. Die Flegel erzählten politische Witze, hörten BBC mit Nachrichten vom spanischen Bürgerkrieg. War man für Interbrigade oder Legion Condor? Der Biologielehrer bejahte die Frage nach dem »anständigen Juden« - »Aber es kommt auf die Rassenfrage an!« ... Einerseits nahmen mich die Eltern mit nach Dahlem zu Pastor Niemöllers »bekennenden« Predigten (die ihn ins KZ brachten), andererseits ließen sie mich bei einem nazikonformen »Deutschchristen« in Steglitz einsegnen. Einerseits die Moskauer Schauprozesse - andererseits arbeitete der Vater eines Fußballkameraden in der Sowjetunion und überwies Schecks. Ein Siebzehnjähriger, verwirrt durch Ungereimtheiten. Fast alle Abiturienten meldeten sich zum Wehrdienst. Aber mein Vater, Weltkriegsteilnehmer, fand: »Zum Militär geht man nicht freiwillig!« So konnte ich mich an der Friedrich Wilhelm Universität immatrikulieren. Die Welt war düpiert worden vom Hitler-Stalin-Pakt, doch dem Philosophiestudenten imponiert in der Ufa-Wochenschau der Handschlag am Bug von Offizieren aus Roter Armee und Wehrmacht.
Was wird aus einem solchen, vom Zeitgeist manipulierten Menschenkind? Es hatte in der S-Bahn ein Mädchen kennen gelernt, Schauspielschülerin, die ihm zwei dicke, schwarzleinene Bände schenkte. »Das musst du lesen!« Im Geschichtsunterricht eingebläut worden waren ihm Daten von Kaisern, Schlachten, Erfindungen, Jahreszahlen kunterbunt. Nun las er, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Historie - Kreislauf von Frühling, Sommer, Herbst und Winter der Kulturen, zusammenhängend betrachtet als »Kulturmorphologie«. Das 20. Jahrhundert sei eine Spätzeit, dominiert von Cäsarentum und Masse. Man konnte Hitler und Stalin genauer einordnen. »Der Untergang des Abendlandes« von Oswald Spengler. Der Folgeband: »Preußentum und Sozialismus« - so etwas wie National-Bolschewismus?

Fragen in der Schweiz

Im Januar 1941 hing am Schwarzen Brett der Universität Unter den Linden ein Zettel: Vergabe eines Studienplatzes, Sommersemester in Lausanne. 10 000 Studierende, wie viele Bewerber? Der sachbearbeitende Kommilitone war ein BSV-Sportkamerad. Ob ich politisch organisiert sei. Nur in der Studentenschaft. »Wehrpflichtig?« Beurlaubt. »Hast du Geld?« Werkstudent. Ihm lag an keinem Hundertfünfzigprozentigen, sondern an einem im Ausland »vorzeigbaren« Deutschen. Er zögerte. Plötzlich sagte er: »Gut, du gehst!« Persönlich musste ich Zustimmung holen von Rektor, Wehrkreiskommando, Gestapo und den Pass vom Polizeirevier. Endlich Visum vom Schweizer Konsulat. Jugoslawien und Griechenland wurden von der Wehrmacht besetzt, konnte ich fahren? Im Mai reiste ich ab. Lausanne? Wunderbar! Eines frühen Morgens Ende Juni klopfte es an die Tür. »Monsieur!« Der Zimmernachbar holte mich ans Radio, Goebbels sprach - trotz Nichtangriffspakt Angriff auf Sowjetunion.
Bis September war mein Visum gültig. Was macht nach dessen Ablauf ein junger Deutscher? Er kehrt heim und wird Soldat. Oder versucht Visumsverlängerung beim deutschen Konsulat in Genf. Irgendwann sagt das Konsulat nein. Er bleibt und ist fahnenflüchtig. Sagt nun die Schweiz ebenfalls nein? Taucht er unter? Bei der Freundin oder in fremder diplomatischer Vertretung, etwa den USA? Nimmt man dann zu Haus die Eltern in Sippenhaft? Wird er Scham fühlen, beim mörderischen Ringen im Osten nicht dabei zu sein, Schuld, seine Brüder im Stich zu lassen? Wie wird es sich vorkommen, nach dem Krieg in ein auf alle Fälle zerbombtes Land zurückzukehren?
Niemand gab mir Ratschläge. Der Vormarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion verlief zügig, Richtung Krim, Moskau, Baltikum. Unser Konsulat in Genf ließ sich auf keine Verhandlung ein. Immer noch unentschlossen, setzte ich mich in den D-Zug. Das Visum lief ab. Der Zug hält, Schweizer Grenzbahnhof. Im Abteil prüft der Grenzer den Pass. Hält ihn zögernd in der Hand. Der Zug ruckt an. Der Pass wechselt die Hände. Der Grenzer steigt aus. Langsam fährt der Zug durch Niemandsland. Ich stehe am Fenster. Da, Grenzpfähle. Halt. Ich bin der Einzige, der aussteigt. Nun bin ich bei meiner Generation - in einer Situation, die entstand, als wir 13 gewesen waren. Als 1933 durch Mehrheitsvotum einer deutschnational-nationalsozialistischen Koalition im Reichstag die Machtergreifung von »Adolf Legalité« möglich geworden war.

Vorwärts zum Endsieg

An der Universität Rostock konnte ich meinen Doktor bauen. Und am Stadttheater als Regieassistent mein Brot verdienen. Denunziation vom Pförtner: »Der sagt nie "Heil Hitler"!«. Ein Kollege haute mich raus, Harry Hindemith (reüssierte in der DDR). Er kam zum Einsatz beim Front-Theater. Ich bewarb mich als Sprecher beim Reichsrundfunk. Bei der Ufa Babelsberg als Dramaturg. Bei der Wochenzeitung »Das Reich« für eine Propaganda-Kompanie. Doch ich kam zu den Panzergrenadieren, der härtesten Truppe. Was konnte ich im Feld mit meinem Berliner Universitätswissen anfangen, mit Romano Guardinis Fragen nach hinter den Gesetzen liegender »eigentlicher Gesetzlichkeit« oder Eduard Sprangers »Üb immer Treu und Redlichkeit«? Mit aus Lausanne importiertem »élan vital« Bergsons? Mit seit Rostock im Tornister verpacktem kategorischem Imperativ Kants, so zu handeln, dass die Maxime meines Willens »zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen kann«? Was war denn mein Wille beim Vorstoß in Richtung Kaukasus? Bei Bekämpfung von Partisanen in Weißrussland? Beim Rückmarsch in der Ukraine zum »Endsieg«? Zu desertieren und in Sibirien zu enden?
Was ich vor der Truppe gesagt hätte? - »Vor dem lieben Gott und der Verpflegung sind alle gleich, auch Unteroffiziere und Soldaten!« Der Oberst zuckte zusammen. »Das haben Sie gesagt?! Untersuchungshaft! Gestapo verständigen!« Wegen Wehrkraftzersetzung angedrohte Todesstrafe wandelt das Kriegsgericht um in Frontbewährung. An der Front kapituliere ich am 8. Mai 45.
Sowjetgefangenschaft. Im Tagebuch der Entwurf einer allgemeinen Gesetzgebung, z. B. rückfällige Straftäter kommen lebenslänglich in Lager, wo sie alles haben, außer Freiheit. Radikalität schien jetzt nötig, lange vor den Roten Khmer. Heimkehr nach Berlin-Steglitz in den US-Sektor.

Desillusionierungen

Im August befiehlt Präsident Truman den Abwurf von Atombomben über Hiroshima/Nagasaki. Vier Jahre später probiert die Sowjetunion ihre erste A-Bombe aus. Da trifft unsereiner an der Harvard Universität ein zwecks »Umerziehung«. Als Professor am Bryn Mawr College erzieht er dann selber - mit anderen Maximen als McCarthy, nach dessen Willen die Hexenjagd auf »unamerikanische« Linke veranstaltet wird. In Westberlin verlässt mein Vater die SPD wegen Wiedereinführung der Wehrpflicht. Mein erster Sohn verzichtet auf die amerikanische Staatsbürgerschaft; will nicht nach Vietnam. Wir sind heimgekehrt. Während Sohn und Tochter bei Demonstrationen im Mao-Block mitmarschieren, gesellt sich unsereiner, vorsichtiger geworden, zur SEW. In Bonn ist ein früher Nazi, Mitverantworter der Nürnberger Rassengesetze, rechte Hand von Bundeskanzler Adenauer; andere Nazis sind in der Regierung. »Als der Führer den Krieg gewann und Wir sagen Ja zur Bundesrepublik« - meine Satire, im Westen von wichtigen Verlagen abgelehnt, dem Aufbau Verlag angeboten, wird von diesem umgehend gedruckt. Im SED-Politbüro säßen aber »Altstalinisten«, erklärt mir RIAS und erteilt mir Hausverbot. Aufbau lädt den Verfemten ein zu Wanderungen auf Spuren Fontanes und veröffentlicht »Ein Yankee in der Mark« - dpa nennt das Buch »Propagandaschrift Ulbrichts«.

Eurasien

Unter den Linden beim neugierig beobachteten Wachaufzug der Nationalen Volksarmee (den Hermann Kant nicht mochte) fiel einem wieder die Zusammenführung »Preußentum und Sozialismus« ein, auch dem jungen Ernst Bloch nicht fremd. Könnte man nicht jetzt den hiesigen Teil des Abendlandes vor dem Untergang retten durch eine Union mit unverbrauchten Völkern des Ostens und so der DDR zu einer »Doppelkultur« verhelfen? Engagiert zog der geborene Märker um in die 18. Hochhausetage am Prenzlauer Berg, im Gepäck die »Renaissance«-Idee. Schrieb einen langen Brief ans »Neue Deutschland«, um keine Zweifel an seiner Unabhängigkeit aufkommen zu lassen. Weil er aber mit dem »Klassenfeind im Westen paktierte« (so Dieter Noll), wurde nach einem Jahrzehnt der »kaputte Typ« ausgebürgert, auch Frau und Kind. Sein Eurasien-Manuskript war vom Aufbau Verlag abgelehnt worden.
Der exmaoistische Sohn arbeitet heute bei der EU. Die Tochter fühlt sich sozialistisch. Der Jüngste, Sinologe, meint, je größer der Plan, desto größer die Katastrophe. Ich selber wäge ab, statt wie viel, wie wenig der Mensch braucht. Das soll ein Linker gewesen sein? Ein Rezensent erkannte in mir den »alt gewordenen amerikanischen Pfadfinder, letzten Rucksackträger Brechts« - bin ich im Herzen gar Anarchist? Hatte aber in Sachen Sozialismus die real existierende Macht zu viele Kompromisse geschlossen und die Intelligenz zu viel Utopia verlangt? Oder wirst du, was du bist - bist du, was du wirst?»Ich hätte Gottfried Benn, er ich sein können.«
Johannes R. Becher

Es hatte an der Wohnungstür geklingelt, und er hörte auf zu schmökern. Die Mutter kam aus der Küche, und der Bettler kriegte, über die Türkette hinweg, ein Schmalzbrot. »Wir geben dem armen Manne was, wir sind ja reich!« Aber oft fand sich, eine Etage tiefer, das Almosen verschmäht am Flurfenster. Mein Vater, aus einer Familie mit 1848ern, nahm mich mit zu Aufmärschen für Rosa Luxemburg und Liebknecht, auch an eiskalten Tagen. Nach der Jahrhundertwende war er Mitglied der SPD geworden, nach dem Motto »Freiheit auf allen Gebieten«. »Das Kapital« hatte immer schon im Bücherschrank gestanden. Doch um es gleich zu sagen: Marx habe ich erst gelesen, nachdem man mich im Republikanischen Club Berlin mit »Genosse« angeredet hatte.

Der Knirps

Dass es »rechts« und »links« gab, lernte der Knirps nicht nur beim Schuhe anziehen. Der Beamte im Haus flaggte an Wahlsonntagen Schwarz-Weiß-Rot, mein Vater - Versicherungskaufmann - Schwarz-Rot-Gold; Kinder spotteten »Schwarz-Rot-Mostrich«. Die große Mehrheit der Verwandtschaft war konservativ bis reaktionär, im Besitz von Gaststätten und Kinos (Albrechtshof, heute Steglitzer Kreisel, Titania Palast). Mein Onkel, halbjüdisch, politisch beim deutsch-nationalen Ufa-Hugenberg-Konsortium, spendete Millionen für Hitler (die Tante: »Ist Hitler nicht ein wunderbarer Mann?«), um unbehelligt zu bleiben, konnte aber den Sohn nicht vorm »Heldentod« in Russland retten. Mein Lieblingsonkel, olympiareifer 800-m- Läufer, war »alter Kämpfer« der NSDAP und wurde als Steglitzer Gestapo-Chef nach der Niederlage »von den Russen abgeholt«. Es gab ein Ehepaar, das dem Knirps imponierte, Pfleger im Krankenhaus, per Motorrad fuhr es bis Spanien, Mitglied der KPD und Kuriere der Internationale. Beispiele - oder Zangengeburt meiner Weltanschauung im Schoß der Widersprüche des Beamtenkaffs?
In der City ein anderes Klima. Onkel Theo, mit Obststand in der Central Markthalle, wohnte am Bülowplatz beim KPD-Gebäude, ließ den Knirps Straßenschlachten erleben, empfahl als Katholik die Zentrums-Partei und wurde, Holländer, gelegentlich im Polizeipräsidium vernommen. Am Halleschen Tor bei der Oma lernte man die Marschkolonnen kennen, das Reichswehr-Musikkorps spielte »Denkste denn, du Berliner Pflanze«, die SA »Als die goldne Abendsonne«, Rotfront »Völker hört« und die Heilsarmee »Onward Christian Soldiers«. Was klang am schönsten?

Der Jüngling

1933 war ich 13. Die NSDAP kam an die Macht. Meine Eltern warnten, doch vorsichtig, SPD verboten, Vater mit KZ bedroht. Ich übergewechselt zum Kleist-Gymnasium Grunewald des Großbürgertums, des Militärs, des Adels. Die Flegel erzählten politische Witze, hörten BBC mit Nachrichten vom spanischen Bürgerkrieg. War man für Interbrigade oder Legion Condor? Der Biologielehrer bejahte die Frage nach dem »anständigen Juden« - »Aber es kommt auf die Rassenfrage an!« ... Einerseits nahmen mich die Eltern mit nach Dahlem zu Pastor Niemöllers »bekennenden« Predigten (die ihn ins KZ brachten), andererseits ließen sie mich bei einem nazikonformen »Deutschchristen« in Steglitz einsegnen. Einerseits die Moskauer Schauprozesse - andererseits arbeitete der Vater eines Fußballkameraden in der Sowjetunion und überwies Schecks. Ein Siebzehnjähriger, verwirrt durch Ungereimtheiten. Fast alle Abiturienten meldeten sich zum Wehrdienst. Aber mein Vater, Weltkriegsteilnehmer, fand: »Zum Militär geht man nicht freiwillig!« So konnte ich mich an der Friedrich Wilhelm Universität immatrikulieren. Die Welt war düpiert worden vom Hitler-Stalin-Pakt, doch dem Philosophiestudenten imponiert in der Ufa-Wochenschau der Handschlag am Bug von Offizieren aus Roter Armee und Wehrmacht.
Was wird aus einem solchen, vom Zeitgeist manipulierten Menschenkind? Es hatte in der S-Bahn ein Mädchen kennen gelernt, Schauspielschülerin, die ihm zwei dicke, schwarzleinene Bände schenkte. »Das musst du lesen!« Im Geschichtsunterricht eingebläut worden waren ihm Daten von Kaisern, Schlachten, Erfindungen, Jahreszahlen kunterbunt. Nun las er, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Historie - Kreislauf von Frühling, Sommer, Herbst und Winter der Kulturen, zusammenhängend betrachtet als »Kulturmorphologie«. Das 20. Jahrhundert sei eine Spätzeit, dominiert von Cäsarentum und Masse. Man konnte Hitler und Stalin genauer einordnen. »Der Untergang des Abendlandes« von Oswald Spengler. Der Folgeband: »Preußentum und Sozialismus« - so etwas wie National-Bolschewismus?

Fragen in der Schweiz

Im Januar 1941 hing am Schwarzen Brett der Universität Unter den Linden ein Zettel: Vergabe eines Studienplatzes, Sommersemester in Lausanne. 10 000 Studierende, wie viele Bewerber? Der sachbearbeitende Kommilitone war ein BSV-Sportkamerad. Ob ich politisch organisiert sei. Nur in der Studentenschaft. »Wehrpflichtig?« Beurlaubt. »Hast du Geld?« Werkstudent. Ihm lag an keinem Hundertfünfzigprozentigen, sondern an einem im Ausland »vorzeigbaren« Deutschen. Er zögerte. Plötzlich sagte er: »Gut, du gehst!« Persönlich musste ich Zustimmung holen von Rektor, Wehrkreiskommando, Gestapo und den Pass vom Polizeirevier. Endlich Visum vom Schweizer Konsulat. Jugoslawien und Griechenland wurden von der Wehrmacht besetzt, konnte ich fahren? Im Mai reiste ich ab. Lausanne? Wunderbar! Eines frühen Morgens Ende Juni klopfte es an die Tür. »Monsieur!« Der Zimmernachbar holte mich ans Radio, Goebbels sprach - trotz Nichtangriffspakt Angriff auf Sowjetunion.
Bis September war mein Visum gültig. Was macht nach dessen Ablauf ein junger Deutscher? Er kehrt heim und wird Soldat. Oder versucht Visumsverlängerung beim deutschen Konsulat in Genf. Irgendwann sagt das Konsulat nein. Er bleibt und ist fahnenflüchtig. Sagt nun die Schweiz ebenfalls nein? Taucht er unter? Bei der Freundin oder in fremder diplomatischer Vertretung, etwa den USA? Nimmt man dann zu Haus die Eltern in Sippenhaft? Wird er Scham fühlen, beim mörderischen Ringen im Osten nicht dabei zu sein, Schuld, seine Brüder im Stich zu lassen? Wie wird es sich vorkommen, nach dem Krieg in ein auf alle Fälle zerbombtes Land zurückzukehren?
Niemand gab mir Ratschläge. Der Vormarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion verlief zügig, Richtung Krim, Moskau, Baltikum. Unser Konsulat in Genf ließ sich auf keine Verhandlung ein. Immer noch unentschlossen, setzte ich mich in den D-Zug. Das Visum lief ab. Der Zug hält, Schweizer Grenzbahnhof. Im Abteil prüft der Grenzer den Pass. Hält ihn zögernd in der Hand. Der Zug ruckt an. Der Pass wechselt die Hände. Der Grenzer steigt aus. Langsam fährt der Zug durch Niemandsland. Ich stehe am Fenster. Da, Grenzpfähle. Halt. Ich bin der Einzige, der aussteigt. Nun bin ich bei meiner Generation - in einer Situation, die entstand, als wir 13 gewesen waren. Als 1933 durch Mehrheitsvotum einer deutschnational-nationalsozialistischen Koalition im Reichstag die Machtergreifung von »Adolf Legalité« möglich geworden war.

Vorwärts zum Endsieg

An der Universität Rostock konnte ich meinen Doktor bauen. Und am Stadttheater als Regieassistent mein Brot verdienen. Denunziation vom Pförtner: »Der sagt nie "Heil Hitler"!«. Ein Kollege haute mich raus, Harry Hindemith (reüssierte in der DDR). Er kam zum Einsatz beim Front-Theater. Ich bewarb mich als Sprecher beim Reichsrundfunk. Bei der Ufa Babelsberg als Dramaturg. Bei der Wochenzeitung »Das Reich« für eine Propaganda-Kompanie. Doch ich kam zu den Panzergrenadieren, der härtesten Truppe. Was konnte ich im Feld mit meinem Berliner Universitätswissen anfangen, mit Romano Guardinis Fragen nach hinter den Gesetzen liegender »eigentlicher Gesetzlichkeit« oder Eduard Sprangers »Üb immer Treu und Redlichkeit«? Mit aus Lausanne importiertem »élan vital« Bergsons? Mit seit Rostock im Tornister verpacktem kategorischem Imperativ Kants, so zu handeln, dass die Maxime meines Willens »zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen kann«? Was war denn mein Wille beim Vorstoß in Richtung Kaukasus? Bei Bekämpfung von Partisanen in Weißrussland? Beim Rückmarsch in der Ukraine zum »Endsieg«? Zu desertieren und in Sibirien zu enden?
Was ich vor der Truppe gesagt hätte? - »Vor dem lieben Gott und der Verpflegung sind alle gleich, auch Unteroffiziere und Soldaten!« Der Oberst zuckte zusammen. »Das haben Sie gesagt?! Untersuchungshaft! Gestapo verständigen!« Wegen Wehrkraftzersetzung angedrohte Todesstrafe wandelt das Kriegsgericht um in Frontbewährung. An der Front kapituliere ich am 8. Mai 45.
Sowjetgefangenschaft. Im Tagebuch der Entwurf einer allgemeinen Gesetzgebung, z. B. rückfällige Straftäter kommen lebenslänglich in Lager, wo sie alles haben, außer Freiheit. Radikalität schien jetzt nötig, lange vor den Roten Khmer. Heimkehr nach Berlin-Steglitz in den US-Sektor.

Desillusionierungen

Im August befiehlt Präsident Truman den Abwurf von Atombomben über Hiroshima/Nagasaki. Vier Jahre später probiert die Sowjetunion ihre erste A-Bombe aus. Da trifft unsereiner an der Harvard Universität ein zwecks »Umerziehung«. Als Professor am Bryn Mawr College erzieht er dann selber - mit anderen Maximen als McCarthy, nach dessen Willen die Hexenjagd auf »unamerikanische« Linke veranstaltet wird. In Westberlin verlässt mein Vater die SPD wegen Wiedereinführung der Wehrpflicht. Mein erster Sohn verzichtet auf die amerikanische Staatsbürgerschaft; will nicht nach Vietnam. Wir sind heimgekehrt. Während Sohn und Tochter bei Demonstrationen im Mao-Block mitmarschieren, gesellt sich unsereiner, vorsichtiger geworden, zur SEW. In Bonn ist ein früher Nazi, Mitverantworter der Nürnberger Rassengesetze, rechte Hand von Bundeskanzler Adenauer; andere Nazis sind in der Regierung. »Als der Führer den Krieg gewann und Wir sagen Ja zur Bundesrepublik« - meine Satire, im Westen von wichtigen Verlagen abgelehnt, dem Aufbau Verlag angeboten, wird von diesem umgehend gedruckt. Im SED-Politbüro säßen aber »Altstalinisten«, erklärt mir RIAS und erteilt mir Hausverbot. Aufbau lädt den Verfemten ein zu Wanderungen auf Spuren Fontanes und veröffentlicht »Ein Yankee in der Mark« - dpa nennt das Buch »Propagandaschrift Ulbrichts«.

Eurasien

Unter den Linden beim neugierig beobachteten Wachaufzug der Nationalen Volksarmee (den Hermann Kant nicht mochte) fiel einem wieder die Zusammenführung »Preußentum und Sozialismus« ein, auch dem jungen Ernst Bloch nicht fremd. Könnte man nicht jetzt den hiesigen Teil des Abendlandes vor dem Untergang retten durch eine Union mit unverbrauchten Völkern des Ostens und so der DDR zu einer »Doppelkultur« verhelfen? Engagiert zog der geborene Märker um in die 18. Hochhausetage am Prenzlauer Berg, im Gepäck die »Renaissance«-Idee. Schrieb einen langen Brief ans »Neue Deutschland«, um keine Zweifel an seiner Unabhängigkeit aufkommen zu lassen. Weil er aber mit dem »Klassenfeind im Westen paktierte« (so Dieter Noll), wurde nach einem Jahrzehnt der »kaputte Typ« ausgebürgert, auch Frau und Kind. Sein Eurasien-Manuskript war vom Aufbau Verlag abgelehnt worden.
Der exmaoistische Sohn arbeitet heute bei der EU. Die Tochter fühlt sich sozialistisch. Der Jüngste, Sinologe, meint, je größer der Plan, desto größer die Katastrophe. Ich selber wäge ab, statt wie viel, wie wenig der Mensch braucht. Das soll ein Linker gewesen sein? Ein Rezensent erkannte in mir den »alt gewordenen amerikanischen Pfadfinder, letzten Rucksackträger Brechts« - bin ich im Herzen gar Anarchist? Hatte aber in Sachen Sozialismus die real existierende Macht zu viele Kompromisse geschlossen und die Intelligenz zu viel Utopia verlangt? Oder wirst du, was du bist - bist du, was du wirst?

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