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Sparsamkeit ist schwer zu lehren

Jedes siebte Kind in Deutschland gilt als arm

  • Nino Ketschagmadse
  • Lesedauer: 8 Min.
twa zwei Millionen Minderjährige leben heute in Deutschland in Armut. Von einer viel höheren Dunkelziffer gehen Familienforscher aus. Am häufigsten betroffen sind noch immer Nachkommen allein erziehender Mütter und kinderreicher Familien. Hilfswerke, wie »Die Arche« in Berlin-Hellerdorf unterstützen sie und versuchen, ihnen und ihren Eltern wenigstens ein bisschen verlorenes Selbstwertgefühl zurück zu geben.
Bei diesem feuchtkalten Wetter hat Jessika (Name geändert) keine Lust, draußen Fußball zu spielen. Die Zwölfjährige überlegt kurz, ob sie mit ihrer Freundin stattdessen zum Kinderspielplatz gehen will. Dann verwirft sie die Idee. Die Spagetti mit Schinkensoße auf den Tellern der beiden Mädchen nehmen langsam Essenstemperatur an. Sie haben großen Hunger, vertilgen rasch und holen eine zweite Portion von der Theke. »Heute schmeckt es gut«, meint Jessika. Gestern hätte es hingegen Hühnerfrikassee mit Reis gegeben. »Nicht jedes Kind mag Reis«, sagt sie altklug. Mit ihren dunkelroten Haaren, den Sommersprossen auf der Nase und den lustig dreinblickenden Augen wirkt das schlanke Mädchen aber auch in solchen Situationen sehr sympathisch. An den weißen Wänden der im Keller untergebrachten Küche hängen nur ein paar bunte Poster. Sie sollen Jessika und den anderen Gästen erklären, wie gesunde Ernährung aussieht: viel Obst und Gemüse, wenig Fleisch und noch weniger Süßigkeiten. Der offene Raum ist durch einen Gang zweigeteilt. Im kleineren, auch deutlich ruhigeren Teil lehnen an den meisten Tischen Einkaufstüten von Billigdiscountern und sitzen Erwachsene. Ebenfalls mit Nudeltellern vor sich. In letzter Zeit werde auch ihr Anteil wieder größer, so die Betreiber der »Arche«. Nebenan ertönt Gekreische und lautes Lachen. Etwa 150 Kinder und Jugendliche bevölkern hier (werk-)täglich zwischen 13 und 15 Uhr die Armenküche, um nach der Schule ein Mittagessen zu erhalten. Selbst wenn der Hunger gestillt ist, zieht es die wenigsten von ihnen nach Hause. Auch Jessika und ihre Freundin Lara bleiben heute wieder in der ehemaligen Grundschule, in der vor vier Jahren das »Christliche Kinder- und Jugendwerk« das Regiment übernahm und das beliebte »Kidscafé« betreibt. Hier könne man gut »abhängen«, Tischfußball spielen oder »im zweiten Stock Tanzen lernen«. Auch Nachhilfeunterricht werde angeboten, den bräuchte sie diesmal jedoch nicht: »Das sechste Schuljahr hat gut für mich angefangen.« Die Mutter von Jessika wechselt Raum und Tisch und setzt sich zu ihrer Tochter. »Wir wären vielleicht längst umgezogen, gäbe es diese Einrichtung nicht.« Für ihr jüngstes Kind, gerade mal drei Jahre alt, hat sie pure Nudeln geholt und schneidet sie nun mit dem Messer in kleine Stücke. Dabei erzählt sie, warum sie den Bezirk verlassen wollten. In der Nähe von Berlin hätte die Familie die Möglichkeit gehabt, ohne Kaltmietkosten zu leben. Jetzt zahlen sie etwa 500 Euro warm - für eine Vierzimmerwohnung in einem Hochhaus. Sie sei langzeitarbeitslos, Jessikas Vater auch. Für sich und die »drei kleinen Münder zu Hause« bekämen sie vom Staat insgesamt 1600 Euro pro Monat. Entsprechend froh ist sie, wenn sie sich die Ausgaben für warme Mahlzeiten weitgehend sparen kann. Wie Jessikas Familie geht es in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Haushalten - so der Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2001. »Aktuellere Erhebungen sind noch nicht vollständig ausgewertet. Die Zahlen haben sich aber in den letzten zwei Jahren nicht nennenswert verändert«, heißt es im Bundesfamilienministerium. Demnach sind Kinder unter 18 Jahren mit rund 1,1 Millionen die mit Abstand größte Gruppe unter den Sozialhilfebeziehern. Hinzu kommt eine etwa gleich große Gruppe, so die Statistik, die mit ihrer Familie unterhalb der Sozialhilfegrenze lebt, aber aus verschiedenen Gründen keinen Sozialhilfeanspruch besitzt oder ihn zumindest nicht wahrnimmt. Etwa jedes siebte Kind beziehungsweise jeder siebte Jugendliche lebe somit in einer Familie, die mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Bruttoeinkommens (in Deutschland bei 2200 Euro) zurecht kommen muss und damit als (einkommens-)arm bezeichnet wird. Außerdem gibt es hier zu Lande noch »etwa 250000 überschuldete Jugendliche. Kinderarmut wurde in Deutschland offiziell lange Zeit totgeschwiegen. Dabei ist sie längst nicht mehr nur bei allein Erziehenden, Migranten, Sozialhilfeempfängern oder kinderreichen Familien anzutreffen. Doch sie ist auf den ersten Blick eben nicht sichtbar, auf den Straßen trifft man nur in Ausnahmefällen Minderjährige in Lumpen. Erst recht keine wirklich Hungernden. Die meisten Betroffenen haben ein Dach über dem Kopf und letztlich doch irgendwie einigermaßen ausreichend zu essen. Arm sein in Wirtschaftsnationen bedeutet dennoch nicht nur, den Gürtel etwas enger schnallen zu müssen, sondern bringt viele Einschnitte mit sich: Heranwachsende leiden unter mangelnden Bildungsmöglichkeiten, gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie sozialer Ausgrenzung - unter so genannter kultureller und sozialer Armut. Sie stecken in einem Teufelskreis, denn, darüber sind sich Familienforscher weitgehend einig: Kinder aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen sind tendenziell die Sozialhilfeempfänger von morgen. Und die PISA-Studie belegte bei Vergleichen der Bundesländer einen direkten Zusammenhang zwischen der Zahl der Sozialhilfeempfänger und der Lernfähigkeit. Danach nahm Berlin den zweitletzten Platz hinter Bremen ein. In der Hauptstadt leben etwa 35 Prozent aller Kinder und Jugendlichen von Sozialhilfe. Verschiedene gemeinnützige, kirchliche und private Organisationen weisen schon lange auf die weitreichenden Folgen der Verarmung hin. Und sie tun etwas dagegen. Wenn auch meist nur mit kleinen Angeboten. Mit Küchenprojekten, Nachhilfeunterricht und Freizeitprogrammen versuchen sie, vor allem das beschädigte Selbstwertgefühl der Kinder wieder herzustellen. Es sei nicht nur der wirtschaftliche Mangel, der Heranwachsende entmutigt, so Bernd Siggelkow, der sich in Berlin-Hellersdorf seit neun Jahren um seine jungen Mitbürger kümmert, sondern das Miterleben, wie die eigenen Eltern bei der Bewältigung ihrer täglichen Probleme scheitern. Bei einer Umfrage unter 280 Schülern musste er erfahren, dass 35 Prozent der Minderjährigen daheim nur zwei Mal in der Woche eine warme Mahlzeit bekommen. Dabei gehört die erst 1986 für junge Paare und Familien erbaute Plattensiedlung Hellersdorf nicht zu den ärmsten Bezirken der Hauptstadt. Die Arbeitslosigkeit liegt sogar unter dem Durchschnitt von 17,4 Prozent. Aber nirgendwo sonst in Berlin muss das Familieneinkommen auf so viele Köpfe verteilt werden. Jeder fünfte Hellersdorfer ist jünger als 18. Neben Siggelkow kümmern sich in der »Arche« 24 weitere Mitarbeiter um etwa 200 Kinder und Jugendliche ab drei Jahren. Aber nur eine Stelle wird vom Bezirk finanziert. Für Kai Uwe Lindloff, beim Projekt für die Verwaltung zuständig, unverständlich: »Viele Einrichtungen, die Kindern helfen wollen, werden geschlossen. Für mich sieht es so aus, als ob sich der Staat bei bestimmten Menschen aus der Verantwortung zieht und sie Privatleuten und örtlichen Behörden überlässt. Wir leben zu über 90 Prozent von Spenden.« Immerhin verfügt »Die Arche« über reichlich Platz. Highlights neben den Freizeit- und Essensangeboten sowie dem »Winterspielplatz« für die Kleinkinder ist die so genannte »Schatzkammer« - ein Raum, randvoll mit gespendetem Spielzeug und noch tragbarer Bekleidung (auch für Erwachsene), in dem sich alle Bedürftigen unentgeltlich bedienen können. Über Lindloffs Arbeitstisch sind Kinderzeichnungen an die Wand gepinnt. Häufigstes Motiv: ein Teddybär. Darunter der Satz »Ich hab dich lieb«. Wenn der sportlich gebaute Mann mit den kurz geschnittenen Haaren sein Büro im Erdgeschoss verlässt, laufen ihm gleich eine Menge Kinder hinterher. »Kai Uwe, Kai Uwe«, rufen zwei etwa zehnjährige Mädchen, bemächtigen sich seiner Hände und boxen ihm - weil er eigentlich noch kurz mit einem Mitarbeiter ein paar Worte tauschen will - leicht in den Bauch. Als er dann ein Mädchen mit Schwung hoch hebt, kreischt es und lacht. »Umarmungen sind hier normal«, sagt der Ex-Bundeswehrler, der seit 2000 bei der »Arche« arbeitet. »Befehle und Gehorsam kenne ich aus meiner Armeezeit. Das wollen wir hier aber nicht.« Vielmehr werden freundschaftliche Beziehungen mit den Besuchern aufgebaut, weil »Kinder ungern über die sozialen Umstände ihrer Familien sprechen. Und dann kommen auch immer solche Themen, wie Gewalt oder Missbrauch«. Öfter wechselnde Freunde der Mütter hätten eine geringere Hemmschwelle, »Stiefkinder anzufassen«. Nicht die einzige Auswirkung einer fehlenden Familienstruktur »im traditionellen Sinne«, ist Lindloff überzeugt. Der Neu-Hellersdorfer beobachtet es täglich: Nikotin ab elf, sexuelle Erfahrung ab dreizehn - daher gebe es auch viele Jugendliche, die zu früh Eltern werden. Beschaffungskriminalität und brutale Gewalt gingen da häufig Hand in Hand: »Viele Kinder sind sehr aggressiv. Sich selbst, aber auch uns gegenüber.« In solchen Fällen gebe es dann ein begrenztes Hausverbot. Für zwei, drei Tage dürften die »Bestraften« lediglich zum Essen kommen. Ein anderes bedenkliches Phänomen seien jene elf- und zwölfjährigen Jungs und Mädchen, die mit zwanzigjährigen Männern zusammenhängen. »Alle aus den gleichen Verhältnissen. Sie bilden eine Ersatzfamilie.« Die Folge für die Jüngeren, wenn sie so eng mit Leuten zu tun haben, die keinen Ausbildungsplatz bekommen, von der Familie nicht gefördert wurden, sei, dass sie sich, auch wenn sie vielleicht intelligenter sind, an den Ersatz-Erwachsenen »orientieren, sich aufgeben, sich mit der Situation abfinden«. Generell lägen die Probleme aber in den echten Familien. Deshalb versuchen die »Archeaner« bewusst, Eltern anzusprechen. »Den Männern fällt zu Hause oft die Decke auf den Kopf, deshalb geben wir ihnen ab und zu bei uns Beschäftigungsmöglichkeiten. Das bedeutet meist 160 Euro Zuverdienst zur Sozialhilfe.« Auch Jessikas Vater erledigt gern für die »Arche« anfallende Malerarbeiten. Die Tochter schätzt an dem Kinder- und Jugendwerk die Möglichkeit, Freundschaften zu schließen, und - wofür die Familie sonst kein Geld hätte - auch mal Ausflüge machen zu können. Das Einkommen reiche ja nicht einmal dafür, einen Schreibtisch zu kaufen, den sie unter ihr Hochbett, das geplant ist, stellen möchte. Schuhe und Bekleidung werden für sie und ihre beiden Geschwister ohnehin nur im Billigdiscounter oder beim Ausverkauf besorgt. Entsprechend froh war sie, als ein Bekannter diesen Sommer aus der Türkei eine schicke Jeanshose mitbrachte. »Kindern kann man Sparsamkeit nicht beibringen«, meint Jessikas Mutter und erzählt von einem Mädchen aus der Verwandtschaft, das 100 Euro bar zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte und das Geld »in nur einer Woche für Chips und Süßigkeiten« ausgegeben habe. Ihre Tochter sei in dieser Hinsicht glücklicherweise sehr vernünftig. »Sie guckt nach Klamotten, die sie sich mit ihrem Geld wirklich kaufen kann. Wenn es mal nicht genug ist, spart sie lieber.« Nur seitdem die Zwölfjährige in einem Spielzeugladen unlängst einen riesigen, auf 69 Euro runterreduzierten Bären im Schaufenster sah, hat sie seit langem wieder einen fixen Luxuswunsch. Das Stofftier will sie »unbedingt« haben. Die Mutter schüttelt nur den Kopf.
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