Ist Ankara fit für Europa?

Von Faruk Sen

Der Europäische Rat entscheidet auf dem gestern Abend begonnenen Gipfel in Brüssel über den Start von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Erdogan-Regierung wie die EU-Kommission gehen davon aus, dass die Türkei die politischen Kopenhagener Beitrittskriterien - Rechtstaatlichkeit, Minderheitenrechte, Demokratie - erfüllt hat. Unter der Oberfläche der großen politischen Reformen der letzten drei Jahre verbleiben aber gravierende Defizite auf der Ebene der Verwaltung und der Zivilgesellschaft. Auch diese muss die Türkei angehen, will sie Beitrittsverhandlungen erfolgreich zu Ende führen und ihren politischen Reformprozess nachhaltig in der Gesellschaft verankern. Zum Beispiel Rechtsstaatlichkeit: Wie in anderen Mittelmeerstaaten hat auch die Türkei in einigen Regionen - insbesondere den ländlichen - klientelistische bis mafiose Gesellschaftsstrukturen hervorgebracht. Anders aber als etwa in Italien hat die gesellschaftliche Debatte hierüber bisher kaum begonnen. Zum Beispiel Pluralität: Der Staat hegt nach wie vor kaum verstecktes Misstrauen gegen viele Formen der zivilgesellschaftlichen Organisation. Viel beachtetes Beispiel war jüngst der Prozess gegen die deutschen politischen Stiftungen. Auch beim Bau christlicher Kirchen und von Gotteshäusern anderer Glaubensrichtungen gibt es nach wie vor Schwierigkeiten. Während die nach dem Lausanner Vertrag 1923 anerkannten Minderheiten Griechen, Armenier und Juden über insgesamt 400 eigene Gotteshäuser besitzen, stößt der Bau von Kirchen gerade an der türkischen Riviera, wo auch 50000 Deutsche leben, noch immer auf Widerstand der lokalen Autoritäten. Misst man die Türkei nur an der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, so sind die politischen Reformen in den letzten Jahren zweifellos umfangreich gewesen, umfangreicher als bei den anderen drei verbliebenen Kandidaten. Die Resonanz der Reformen in Verwaltung und Zivilgesellschaft ist allerdings noch nicht zufrieden stellend. Die Türkei muss eine pluralere Demokratie werden, will sie ihren Platz in Europa finden. Es ist zu hoffen, dass die EU im Rahmen von Beitrittsverhandlungen die Türkei weiter auf dem Reformweg begleiten kann. Für die Türkei gibt es keinen besseren Weg zur Modernisierung des Landes, für die EU bedeutet der türkische Beitrag nicht nur einen Ausweitung wirtschaftlichen Einflusses, sondern auch Stärkung ihrer Werte und Prinzipien im Internationalen Staatensystem. In der Türkei machte sich im Vorfeld des Gipfels Enttäuschung breit. Vieles, was in den Entwurf für die Gipfel-Entscheidung geschrieben wurde, fasst man als Scheinalternativen auf, die einzig und allein die türkische EU-Mitgliedschaft verhindern sollen. Das angedachte Monitoring der Menschenrechtssituation und die damit verbundenen Ausstiegsklauseln sind dabei das geringere Problem. Es sei auch in der Türkei unbestritten, dass die politischen Reformen und insbesondere ihre praktische Umsetzung in den nächsten Jahren weitergehen müssen. Die Türkei ist seit 1963 mit der EU assoziiert, ist 1996 eine Zollunion eingegangen, die ihr im Handel mit Europa bisher mehr Nach- als Vorteile gebracht hat. Alle diese Schritte erfolgten mit der Perspektive auf eine spätere Vollmitgliedschaft in der Union, sonst wäre die Türkei sie auch nie gegangen. Verhandlungen über den Beitritt könnten erfolgreich sein oder scheitern. Eine »ergebnisoffene Orientierung« macht hingegen keinen Sinn und dürfte als Verhandlungszeit seitens der türkischen Regierung so wenig akzeptier...

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