Unterschiedliche Welten auf einem Grab

Heute: Jakob Ullmann über seinen Vater, familiäre Schutzräume und das christliche Abendland

  • Lesedauer: 12 Min.
Fluch oder Segen? Kinder berühmter Eltern - wie fühlen sie sich? Inwieweit wurde ihr Lebensweg von dem der Väter und Mütter befördert oder überschattet? Nehmen sie das große Erbe an, tragen sie es weiter, lehnen sie es ab? Gabriele Oertel und Karlen Vesper befragen Kinder von Persönlichkeiten, die Politik und Geistesleben in Ost- und Westdeutschland beeinflussten.
ND: Sie sind beruflich nicht in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten?
Ullmann: Nein, ich habe selbst gewählt. Er hat mich aber zur Musik gebracht.

Wolfgang Ullmann liebte Musik.
Ja, mein Großvater hatte gewollt, dass sein Sohn Musiker wird. Seine Mutter hätte gern gesehen, dass er Naturwissenschaften studiert und war ganz und gar nicht begeistert, dass er Theologe wurde.

Und wie reagierte Ihr Vater, als Sie sich der Musik zuwandten?
Er war einverstanden. Nur war es nicht leicht, Musik zu studieren, als Sohn eines Theologen und Totalverweigerer. Da kam ich an keine staatliche Musikhochschule, nur an kirchliche. Aber auch dort hatte man Probleme mit mir, so fing ich eben zu komponieren an.

War das Weltkriegserlebnis für Ihren Vater die entscheidende Motivation, Theologie zu studieren?
Da kam vieles zusammen. Natürlich die Zerstörung von Dresden im Februar 1945. Er hätte eigentlich noch zur Flak gemusst, hat sich aber entzogen. Kirchlich sozialisiert wurde er in der Versöhnungsgemeinde, bei einem Pfarrer, der zur Bekennenden Kirche gehörte.

Ihr Vater studierte in Göttingen. Stimmt es, dass er nicht in die DDR zurück wollte, aber musste?
Daran ist so viel richtig, dass er eigentlich sofort nach Ende seines theologischen Studiums zurückgemusst hätte. Da gab es ein Agreement mit den Westkirchen. Mein Vater wollte aber noch seine Dissertation machen. Dass er in die DDR zurückkehrt, stand für ihn außer Frage. Und sehr zum Ärger seiner Mutter ging er auch voller Freude in das sächsische Dorf Colmnitz.
Von Göttingen ging er gern weg, weil diese Stadt für ihn Inbegriff der Adenauer-Bundesrepublik war. Bei einer Demonstration gegen Veit Harlan, den Regisseur des NS-Films »Jud Süß«, der von der bundesdeutschen Justiz freigesprochen worden war, hat er ganz schön was auf die Mütze gekriegt. Das hat ihn geprägt. Später in der DDR hat er oft gesagt: Ihr müsst mir nicht erzählen, wies im Westen ist.

Erinnert sich Colmnitz an ihn?
Aber ja. Vor Jahren war mein Vater eingeladen, als der Posaunenchor Jubiläum hatte. Ehrfurchtsvoll hieß es: »Der Herr Pfarrer ist wieder da.« Auch wenn er ein typischer Intellektueller war - er blieb bei diesen bodenständigen Bauersleuten absolut anerkannt. Übrigens hatte er auch im Bundestag solcher Art Begegnungen. Da traf er den PDS-Abgeordneten Uwe-Jens Rössel. Und wie begrüßt dieser ihn? »Herr Pfarrer, ich war doch bei Ihnen in der Konfirmandenstunde.«

War der Herr Pfarrer auch ein praktischer Mensch?
Ja und nein. Bei Dingen des alltäglichen Lebens eher Nein. Im Restaurant einen Tisch bestellen - das hat meine Mutter gemacht. Oder zur Kommunalen Wohnungsverwaltung gehen - das machte ich.

Wie war Ihr Vater als Vater?
Streng. Er wollte Leistung sehen. Da gibts eine krasse Geschichte. Ich wollte als Elfjähriger so gerne auf eine Spezialschule für Klavier. Ich habe von klein auf gespielt, aber nicht kontinuierlich und hart geübt. Als ich aus Halle von einer Aufnahmeprüfung wiederkam - ich war sicher nicht überragend, aber auch nicht schlecht und wurde nicht genommen; ich war halt kein Pionier - war ich sehr niedergeschlagen. Und was sagt mein Vater zu mir? »Hättest du mehr geübt, hätten sie dich nicht ablehnen können.« Er meinte, Qualität setzt sich am Ende durch, also muss Qualität geliefert werden.

Und das haben Sie auch in der Pubertät so hingenommen?
Er hatte meist die besseren Argumente - unsinnig, dagegen zu rebellieren. Und dann: Die Familie war der Schutzraum. Gegen einen Schutzraum rebelliert man nicht.

Hat Ihr Vater Sie manchmal auf seine Reisen mitgenommen?
Ich wollte, aber er sagte: »Bist du in meinem Alter, bist du weiter in der Welt rumgekommen als ich.«

Eine Prognose, die sich erfüllte.
Er sagte gern: »Ich habe es euch doch schon damals gesagt.«

Dass er Minister würde, ahnte er nicht. Traf ihn das unvorbereitet?
Nein. Er hat selbst immer gesagt, dass er unglaubliches Glück hatte, weil er auf neue Aufgaben in gewisser Weise vorbereitet war. Beispiel: Runder Tisch 1989/90 in der DDR. Bei den Diskussionen so unterschiedlich sozialisierter Leute hat ihm unglaublich geholfen, dass er zehn Jahre lang an ökumenischen Verhandlungen beteiligt war. Da saß er als DDR-Theologieprofessor, der sich nicht Professor nennen durfte, einem orthodoxen Bischof gegenüber, der mit »Seine Heiligkeit« angesprochen werden musste. Er hat gelernt, wie man etwas erreichen kann und dennoch Grenzen zieht, über die man nicht zu gehen bereit ist. Derlei hat er geübt - in der Sowjetunion und in den USA zur Reagan-Ära, wo er dieses fundamentalistische Christentum kennen lernte, das jetzt en vogue ist. Am Runden Tisch war er durch diese Erfahrungen ein ruhender Pol.

Und in der Modrow-Regierung Minister ohne Geschäftsbereich. War das nicht ein Alibi-Amt?
Nein, nein. Das hat ihm sehr gut gefallen. Er sagte: »Ich muss nur wissen, was ich will.« Und hat sich in Stasi-Unterlagengesetz, Verfassung, Wirtschaftsfragen gekniet.

Das Treuhand-Gesetz stammt mit aus seiner Feder.
Die Idee war, Volkseigentum erst einmal in ein solches zu verwandeln. Die Sache verlief freilich ganz anders, als er es sich wünschte.

Er war Illusionen erlegen?
Furchtbar erbost hat ihn dieser Zeitdruck, der schon mit der Vorverlegung des Wahltermins begann. Es war alles Neuland, da hätte man einfach auch länger nachdenken dürfen müssen. Ein Anteilschein allein nützt nichts, man muss wissen, was man damit machen kann. Dafür brauchts den entsprechenden Rechtsrahmen.

Das in der Bundesrepublik gültige Römische Recht sieht die unbegrenzte Freiheit des Eigentums vor.
Mein Vater wollte auf einem Weg weiter gehen, der im Grundgesetz mit der sozialen Bindung des Eigentums angedeutet ist. Es gibt Bereiche, die prinzipiell kein Eigentum sein können. Das sollte sich zum Beispiel auf Grund und Boden beziehen. Und auf das Gesundheitswesen. Welcher anständige Arzt will behaupten, er könne Gesundheit verkaufen? Das ist doch unglaublicher Zynismus. Der Patient, nicht der zahlende Kunde, muss im Mittelpunkt stehen. Das galt zwar in der DDR...

...aber?
Da haben wir leider negative Erfahrungen gemacht. Die Ärzte gaben sich Mühe, bei meiner Mutter zu verhindern, dass sie vollkommen erblindet. Vergeblich. Es ist ihr aber nicht erlaubt worden, in den Westen zu fahren, um sich dort einer womöglich erfolgreichen Behandlung zu unterziehen. Das war einfach schikanös. Als sie blind war, konnte sie fahren. Als Invalidenrentnerin. Absurd.

Ihre Familie hat nicht nur diese eine negative Erfahrung mit der DDR gemacht. Als er »Demokratie Jetzt« gründete, wollte ihr Vater die DDR dennoch nicht abschaffen.
Nein, das wollte er nicht. Im Sommer 1989 gab es bei uns noch heftige Diskussionen darüber, ob und wie sie als eigenständige demokratische DDR erhalten werden kann. Dennoch war für ihn relativ schnell klar, dass die DDR angesichts des politischen und wirtschaftlichen Rahmens nicht lebensfähig ist. Besonders, nachdem er die Wirtschaftsgutachten der DDR-Regierung gelesen hatte.

Wie hat sich Wolfgang Ullmann gefühlt, als er die Auswirkungen nicht umgesetzter Chancen - wie die Massenarbeitslosigkeit - sah?
Er war realistisch genug, zu wissen, es geht manches, manches geht nicht. Und manches geht noch nicht. Natürlich hätte man, wenn man gewollt hätte, durchaus andere Lösungen als diese beispiellose Deindustrialisierung finden können. Aber man darf nicht vergessen, dass die Bürgerbewegungen bei der Volkskammerwahl am 18. März rund zwei Prozent bekamen. Bereitschaft, sich auf eine womöglich sehr viel länger dauernde Perspektive einzulassen, gab es kaum.

Ihr Vater, ein Träumer?
Als Exot oder Träumer galt mein Vater später bei den Bündnisgrünen im Bundestag.
Europa begriff er als Chance. Er hat sich im EU-Parlament viel wohler gefühlt als im Bundestag. Weil diese blödsinnigen ideologischen Scheuklappen dort viel weniger ausgeprägt sind. Im Bundestag ist mein Vater mit seinem Verfassungsprojekt grandios gescheitert. Da hat es ihm 1994 gereicht.

War das eine Kapitulation?
Nein, denn er hat sich dann in Brüssel mit der europäischen Verfassung befasst, in der sicher manches steht, was einen ärgert. Aber die Grundrechtscharta, an der er mitschrieb, ist viel besser als alles, was wir bisher in Europa haben.

Zu seinem Abschied las er 1994 den Grünen die Leviten. Warum?
Er war geradezu schockiert, in welchem Ausmaß auch im Westen Rechtsbewusstsein und das Bewusstsein für verantwortliches politisches Handeln fehlt. Er war über das Agieren der Parteifreunde nach der Machtübernahme 1998 entrüstet, vor allem wegen der Kriegsbeteiligung Deutschlands.

Hat ihn auch schockiert, dass einige Bürgerrechtler aus der DDR so schnell in der CDU landeten?
Weniger, aber ihn überraschte, wie manche, denen es zu DDR-Zeiten nicht kommunistisch genug sein konnte, heute zu wissen glauben, der Kommunismus sei eine Veranstaltung des Teufels.

Also doch Enttäuschung?
Vor allem, dass wieder bloß von Macht geredet wurde, wo es doch viel wichtigere Dinge zu klären gibt.

War er da mal richtig sauer?
Zu den Dingen, die ich an ihm außerordentlich bewundere, gehört, bis zu welchem Ausmaß er sich Unfug anhören konnte. Und wie viel Nachsicht er mit seinen Mitmenschen übte. Gerade das zählt vielleicht zu seinen ganz großen Leistungen. Auf seinem Grab lag ein Kranz mit weißen Blumen vom Verband der stalinistisch Verfolgten und direkt daneben ein großer Kranz vom PDS-Parteivorstand. Ich kann mir heute in Deutschland kaum ein Grab vorstellen, wo so unterschiedliche Welten so friedlich aufeinander stoßen. So war er.

Ein Talent zur Versöhnung.
Ja. Dennoch konnte er ärgerlich werden. Als Egon Krenz sich beim Runden Tisch entschuldigte, hat mein Vater die Entschuldigung angenommen. Und fühlte sich hintergangen, als Krenz bei seinem Prozess ganz anders argumentierte.

Da stand Krenz vor Richtern, nicht vor Pfarrern, es ging nicht um Vergebung, sondern Verurteilung.
Stimmt, aber mein Vater sagte: »Wenn jemand so weit gekommen ist, einen großen Fehler einzusehen, wie kann er das wieder negieren?« Mein Vater hat sehr wohl Lernprozesse in der SED registriert, etwa bei Hans Modrow im Zusammenhang mit der Stasi-Auflösung.

Stichwort Stasi. Ihr Vater war der Meinung, alle Geheimdienste gehören aufgelöst. Naiv?
Wieso? Was haben die Geheimdienste bisher zur Abwehr von Terrorismus leisten können? Und was bringen uns die V-Leute, die jenseits von Recht und Gesetz agieren? Was hat flächendeckende Überwachung dem Staat DDR genützt?

Ihr Vater war für die Aufnahme der Türkei in die EU. Und Sie?
Ich habe lange mit ihm diskutiert, weil ich eher kritisch zur Aufnahme der Türkei stand. Ich denke, je größer das Territorium wird, desto schwieriger wird es zu organisieren und regieren sein. Das Römische Reich zerbrach ja auch an seiner Größe. Mein Vater hat mich aber überzeugt. Die Pseudo-Argumente der Gegner: Was heißt denn, die Türkei gehört nicht zur christlich-abendländischen Tradition? Dann müssen wir Thales von Milet rausschmeißen und Heraklit von Ephesus - die ganze philosophische Tradition. Wir müssten Paulus das Heimatrecht entziehen und uns auch vom Nikolaus verabschieden, der war schließlich Bischof in Myra, das liegt an der Südküste Kleinasiens. Europäische Tradition ist eben nicht nur »christliches Abendland«.

Das ist ein Kampfbegriff.
Ja, schon bei Karl dem Großen, später bei Papst Urban und Bernhard von Clairvaux, bei den Kreuzzügen. Ich wundere mich, dass aus den jüdischen Gemeinden nicht mehr Protest kommt. Jeder weiß, als die Kreuzzüge losgingen, brannten zuerst die Synagogen. Wenn jetzt den Muslimen untersagt wird, in den Moscheen arabisch zu sprechen, wird man als nächstes auf die Idee kommen, dass in Synagogen nicht hebräisch geredet werden darf. Im Mittelalter nannte man Menschen, denen man nicht Ketzertum vorwerfen konnte, übrigens Dissidentes.

So wie in der DDR.
In der DDR war alles ein bisschen anders. Es gab feste Gruppierungen. Da hielt ich mich am Rande.

Und womit hatten Sie zu tun?
Ich habe Fotos von Waldschäden im Vogtland, Berichte über einen Schwelbrand im Tagebau gemacht, Solschenizyns »Archipel« auf einer alten Remington abgeschrieben. Solche Sachen halt. Natürlich interessierte sich die Stasi für mich. Auch, weil ich den Wehrdienst total verweigerte. Selbst die Kirche fand irgendwann, ich sei bei ihr unerwünscht, und ich bekam nach der Ausbildung keine Stelle. Zum Glück kam ich nicht ins Gefängnis.

Aus Rücksicht auf den Vater?
Könnte sein. Aber offensichtlich hatte die DDR in den 80er Jahren kein Interesse mehr an Wehrdienstverweigererprozessen. Man versuchte, die Leute in den Westen abzuschieben. Das habe ich strikt abgelehnt. Ich wollte ausschließen, dass jemand dort sagen kann, wir haben ihnen geholfen, jetzt helfen sie uns. Es war auch meine Hauptangst in der DDR, andere irgendwie zu belasten. Deshalb habe ich in dieser Zeit mit meinem Vater über vieles kaum gesprochen.

So rücksichtsvoll war Ihr Vater nicht. Seinen Kindern mutete er allerhand zu. Hätte er nicht etwas opportunistischer sein können?
Bei den Pionieren noch nicht, aber bei FDJ und Jugendweihe konnten wir frei entscheiden. Er war der Meinung, solche Erfahrungen, so hart sie auch sind, sind im Leben von Nutzen, weil man innere Unabhängigkeit gewinnt. Solche Freiheit braucht man auch heute!


Der Sohn über den Vater:

Empfinden Sie es als eine Last, einen berühmten Vater zu haben?
Eher weniger.

Welche Stärken schätzten Sie an ihm?
Die unglaubliche Weite seines Horizontes. Die unglaubliche Geduld, Unfug zu ertragen. Die Fähigkeit, in den verschiedensten Situationen die Fassung zu bewahren und etwas Produktives zu machen.

Welche Schwächen von ihm lehnen Sie ab?
Eigentlich keine.

Welche seiner Eigenschaften würden Sie gern besitzen?
Seine Geduld hätte ich gern, natürlich auch sein Wissen.

Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Zu Hause schon.


15 Kinder-Interviews dieser Serie sind als Buch im Militzke-Verlag erschienen, das beim ND-Bücherservice erhältlich ist.
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