John im Glück

Jürgen Kamm und Bernd Lenz: »Großbritannien verstehen«

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.
An Büchern über Großbritannien ist kein Mangel. Die Spreu liegt auch hier breiter als der Weizen. Doch mit »Großbritannien verstehen« ist den beiden Professoren für Anglistik bzw. Englische Literatur und Kultur von der Uni Passau ein verständnisvolles und verständliches Werk gelungen. Es erreicht nicht die Klischeesättigung anderer Britannien-Bücher. Es ist sich aber auch nicht zu fein, an die Klischees vieler Deutscher über Großbritannien anzuknüpfen, um sie zu erklären, einzuordnen oder zu erledigen. Ganz im Sinne des nicht eben aufregenden, dafür umso ehrgeizigeren Buchtitels. Genau genommen haben Kamm und Lenz ein unterhaltendes Lehrbuch geschrieben. Dazu tragen die übersichtlichen Info-Kästen zu Begriffen und Phänomenen britischen Lebens und seiner Geschichte ebenso bei wie Fotos, Karikaturen, in Englisch angebotene Kurzkommentare, prominente Zitate und klassische Gedichte. Leserfreundlich gliedernd, beginnen die Autoren mit hilfreichen und (auf 20 Textseiten) beeindruckend knappen Grundzügen britischer Geschichte: Sie betrachten Regionen und Kulturen, beleuchten Britanniens fremdelndes Verhältnis zu Europa, erläutern das viel innigere Verhältnis zum verblichenen Empire und den USA, beschauen anhand von Monarchie, Shakespeare sowie Gärten und Schlössern beispielhaft den »Glanz des historischen Museums« Großbritannien. In zwei gehaltvollen Kapitel behandeln sie Verfassung und politisches System, Gesellschaftsstruktur und Parteien. Es geht um Arbeit und Freizeit, Bildung und Wohlfahrt, Medien und Öffentlichkeit sowie Großbritanniens sich wandelnden internationalen Platz. Kulturelle, politische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte fürs bessere Verständnis des Inselreichs werden besonders überzeugend präsentiert. Da ein in Einzelheiten wiedergegebenes Lexikon so unterhaltsam wie ein erzähltes Mittagessen ist, sollen hier zwei Gedanken hervorgehoben werden. Sie sind nicht nur für das Verstehen britischer Verhältnisse und Veränderungen wichtig, sondern verdienen auch vor einem deutschen Publikum in der gegenwärtigen Phase seiner Reformdebatte hervorgehoben zu werden. In einem Land mit faktisch spärlicher Volkssouveränität (»Gegenwärtigen Schätzungen zufolge befindet sich etwa ein Viertel des nationalen Reichtums im Besitz von etwa einem Prozent der Bevölkerung«) hat sich sich erstaunliche gesellschaftliche Stabilität über lange Zeiträume immer wieder dadurch hergestellt, dass Briten Weltmeister im Kompromiss sind, auch wenn darunter nicht wenige faule sind. Doch »to muddle through« - sich durchzuwursteln - ist für Briten normal, nicht ehrenrührig. »Die Briten gelten zwar als eher konservatives Volk, das sich gerne an verkrustete Traditionen klammert; in Wirklichkeit zeichnet sich Großbritannien jedoch durch eine subtile Balance zwischen altbewährter Tradition und zukunftsorientierter Innovation aus. Konservatismus und Fortschritt verbinden sich zu einer typisch britischen Synthese, die friedliche Evolutionen radikalen Revolutionen vorzieht.« Damit im Zusammenhang steht eine andere Eigenheit, die deutschem Gemüt vielleicht kaum begreiflich erscheint: Die Autoren führen eine Langzeitstudie über das Glücksgefühl der Briten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Danach bezeichneten sich 1951 immerhin 89 Prozent »als very happy und als fairly happy«. 2002 waren es noch immer 81 Prozent, die sich als »sehr glücklich« oder zumindest als »ziemlich glücklich« betrachteten. »Diese Konstanz der kollektiven Zufriedenheit ist angesichts der wirtschaftlichen Probleme des Landes sowie des Verlusts der imperialen Größe nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkenswert.« Kamm und Lenz haben wenig Zweifel, dass sich »dieses positive Lebensgefühl« aus der privilegierten Stellung des Humors speist. Der sense of humour, schreiben sie, sei für die britische Vorstellung geglückten Lebens »grundlegend«, der Humor deshalb dort »eine weit verbreitete Strategie der Lebensbewältigung, denn das Bedrohliche verliert seinen Schrecken im Moment seiner Verspottung«. Der tiefgründige Deutsche im Allgemeinen und erst recht sein bewusster Vorreiter werden solche Deutung nur als perfide, skandalöserweise auch noch geglückte Ablenkung vom Wesen des Klassenkampfs einstufen. Doch das ändert wenig daran, dass der sprichwörtliche Hans im Glück besser John im Glück heißen sollte. Jürgen Kamm / Bernd Lenz: Großbritannien verstehen. Primus Verlag. 397 S., geb., 29,90 EUR.
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