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  • Politik
  • Daniel Kehlmann - ein junger Erzähler von absoluter Begabung

Zauberers Debüt

  • Fritz Rudolf Fries
  • Lesedauer: 4 Min.

Zugegeben, »Beerholms Vorstellung« hat mich verblüfft. Es ging mir bei der Lektüre wie dem Zuschauer eines Taschenspielers. »Welchen Weg du auch einschlagen willst«, so zitiert Daniel Kehlmann den Altmeister Giovanni di Vincentio, der lange vor ihm über das Prinzip der Täuschung nachgedacht hat, »gewinnen wird der Taschenspieler«.

Daniel Kehlmann, in München 1975 geboren und seit seiner Kindheit in Wien lebend, ist ein Studiosus der Philosophie und der Literaturwissenschaft - und seit diesem Frühjahr ein Erzähler von absoluter Begabung. Die zwölf Kapitel seines ersten Romans sind mit der Löwenpranke des professionellen Autors geschrieben und zugleich von jener Melancholie geprägt, die ein Kennzeichen österreichischer Literatur ist. In der typischen Verlegenheit des Rezensenten vor einem unbekannten Autor, möchte ich diesem Ein-

zelgänger eine Familie suchen. Nein, Stifter nicht; Handke hätte Mühe, ihm das Wasser zu reichen - Kehlmann ist aufregender; Kolleritsch könnte ein Verwandter sein, und ein wenig mehr von Thomas Bernhard wünscht man dem klugen Jüngling, der quasi nur mit der linken Hand zeigt (etwa in der Beschreibung der Nebenpersonen), wie bissig er sein kann. Denn dieser Arthur Beerholm, ein Zauberer vom Format seines Autors Daniel Kehlmann, ist ein sanfter, wenn auch räsonierender Mensch. Wie für Robert Musil ist auch ihm die Mathematik eine Art Zauberei, und eine »Vorahnung des Bösen« haust im Innern der Zahlen. Anders als die »obzönen Verrenkungen... der blubbernden Materie« sind die trickreichen Kombinationen eines Kartenspiels durchschaubar.

Das Waisenkind Arthur wird vom Ehepaar Beerholm adoptiert. Doch ehe es zu einer Beziehung untereinander kommen kann, wird Mutter Beerholm beim Wäscheaufhängen tödlich vom Blitz getroffen. Vater Beerholm heiratet darauf die

junge Haushälterin und schiebt den spekulierenden Knaben in eine Schweizer Elite-Schule ab. Der Junge entscheidet früh, auf welcher Seite der Welt er leben möchte. Es ist eine Welt, die von Naturgesetzen beherrscht und von Konventionen geprägt ist. Auch wenn Kehlmanns Roman das geographisch-gesellschaftliche Milieu eher unterbelichtet, so wird hier nichts unter den Zauberteppich gekehrt: »Kann es sein, daß ich mich nur auf die Seite der Macht stellen wollte, dorthin, von wo die Blitze geschleudert, anstatt unter die, die getroffen werden?«

Arthur Beerholm, im Internat ein trickreicher aber leidenschaftsloser Kartenspieler, will Theologie studieren, »weil... zweimal fünfzehn ist«. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren (also kaum älter als sein Autor) empfängt er die niederen Weihen. Dennoch, Priester möchte er nicht werden. Das hat nichts mit der diesem Stand auferlegten sexuellen Enthaltsamkeit zu tun. Kehlmann ist, nebenbei gesagt, einer der keuschesten Autoren der letzten fünfzig Jahre. Überrascht erfährt

man gegen Schluß, daß Arthurs Geschichte auch eine Art Lebensbeichte ist, die er einer allzu ätherischen Geliebten vorträgt. Diese gleicht der Nymphe Nimue, die den Zauberer Merlin in den Tod getrieben haben soll. Kehlmann fabuliert auch davon, ohne den Faden seiner spannenden und sprachlich brillant erzählten Lebensgeschichte allzu vordergründig mit der Merlin-Sage zu verknüpfen.

Der junge Zauberer betreibt sein Amt mit der kalten Leidenschaft eines Landvermessers. Er will nicht der von Gott erwählte Mensch sein, wohl aber könnte der Zauberer, der sich der göttlichen Mathematik zur Täuschung der Menschen bedient, »Zielpunkt der Schöpfung« sein. Spekulationen dieser Art - vielleicht nicht Sache eines jeden Lesers - sind das abstrakte Kaninchen in Zauberers Zylinder. Lange stellt Arthur seinem Idol nach, dem betagten Magier Jan van Rode. Den schützt seine Frau vor der Welt, und der Meister tritt nur auf, wenn wieder einmal die Mietschulden an die reale Welt erinnern. Arthur wird sein Schüler, und nachdem er als Falschspieler in einer Spelunke gearbeitet hat, beginnt sein von den Medien gefeierter, kometenhafter Aufstieg.

Auf der Höhe des Erfolgs gibt Beerholm seine letzte Vorstellung. Mit der Grandezza des Wunderkinds düpiert er seinen Brotgeber und überläßt ihn dem Ruin.

Warum hört er auf? Er fürchtet, eines Tages an seine eigenen Wunder zu glauben. Die Dialektik von Täuschung und Ideologie - ein Seitenthema dieses bei erster Lektüre nicht auszuschöpfenden Romans.

Der große van Rode hatte den Adepten gewarnt: Alles ist Traum. Und wie ein Traum kommt dem Erfolgreichen alles vor, was er uns erzählt hat. Der Roman beginnt mit dem wunderbaren Satz: »Unsere seltsame Leidenschaft für erhöhte Standpunkte!« Und dies nicht von ungefähr; denn der Erzähler sitzt noch immer im Kaffeehaus eines Fernsehturms und schaut hinunter. Wenn er sich nun fallen ließe und zerschellte. Gäbe es Rettung? »In einigen Minuten werde ich der Zauberer sein, der ich sein wollte, oder ich werde nicht mehr sein.« Gewinnen wird der Taschenspieler - er nimmt ja die Welt mit, die nur in seinem/unserem Bewußtsein besteht... Doch welch wunderbare Hinterlassenschaft wäre dann ein Roman wie dieser Wundern würde es mich nicht, wenn Kehlmanns nächstes Buch eine mathematisch-philosophische Abhandlung wäre. Ein Grund mehr, »Beerholms Vorstellung« nicht zu verpassen.

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