Der Terror der Alltäglichkeit

1000 Folgen »Lindenstraße«: Der Zuschauer als Kulissenbewohner

Es gibt nichts Dünneres, Blasseres als unseren Alltag, unser tägliches Schaffen vom morgendlichen Grauen in das abendliche Dämmern hinein, unser Schreiten, Schleichen, Schwindeln und Schleppen von einem Punkt zum anderen, aus dem sich am Ende das formt, was wir unser Leben nennen. Ein Leben, das zu mindestens 90 Prozent aus Alltag besteht - und zu restlichen Teilen aus dem, was wir selbst an Höhepunkten möglich machen oder was uns geschenkt wird. Die subjektive Gesamtschau all dessen allerdings ist zu 100 Prozent die Kunst der Verklärung, die die Überhöhung unserer irdischen Existenz schafft, ohne welche wiederum wir weit vor der Zeit an gähnender Langeweile verenden würden. Denn Alltag an sich ist auf nachgerade tödliche Weiseöde. Sterbenslangweilig. Alltag ist nicht sexy. Er wird es erst in seiner Nachbildung, in einer Umformung und Umformatierung zu etwas, was wir nicht mehr als eine Spiegelung unserer eigenen Banalität sehen, sondern als Entwurf anderer Leben, an denen wir teilhaben können. Als Zaungäste. Als Gaffer. Als Voyeure, die aus sicherer Distanz das befiebern oder bekichern, was wir auch in den eigenen vier Wänden haben könn(t)en. Wie die Klatschen und Tratschen, die vom Wohnzimmerfenster aus die Nachbarschaft fest im Visier halten, um sich an deren Kopien des eigenen alltäglichen Vorsichhinlebens zu ergötzen. In dieser Hinsicht ist der mediale Mikrokosmos der »Lindenstraße«, den die ARD an jedem Sonntag um 18.40Uhr vor den Augen von durchschnittlich 4,7 Millionen Zuschauern ausbreitet, ein Beispiel par excellence. Und ein erfolgreiches dazu: Der Marktanteil, an dem sich heute, nach der totalen Durchökonomisierung des Fernsehens jedes televisionäre Produkt messen lassen muss, liegt im Falle der »Lindenstraße« bei rund 20 Prozent. Seit dem Start der Dauerserie am 8. Dezember 1985 sind beinahe 20 Jahre ins Land gegangen. An diesem Sonntag wird die 1000. Folge der »Lindenstraße« ausgestrahlt. Wo Hollywood mit einem Surrogat unmöglicher Möglichkeiten eines aufregenderen, intensiveren, tieferen Lebens verzückt, trommelt Hollymünd - jener großspurig so betitelte WDR-Studiopark im Kölner Stadtteil Bocklemünd, in dem die einzelnen »Lindenstraße«-Folgen abgedreht werden - mit einem Abklatsch alltäglichen Lebens, wie es achtzigmillionenfach bereits in Deutschland Realität ist. Die Serie bietet an jedem Sonntag einen Ablauf erfundener Handlungen, die wir in ähnlicher Form bereits davor unter der Woche erlebt haben. Leidenschaft, aus der im Laufe der Ehejahre Gewöhnung wird; Enttäuschung, die auf die Dauer zu Verbitterung gerinnt; Leben auf Sparflamme, weil spießige Konventionalität immer auch ein selbstgemachtes Schicksal ist; nicht zu vergessen die kleinen Lebens-Widrigkeiten wie Ignoranz, Eifersucht, menschliche Schusseligkeit und Pubertät - alles dies präsentiert die »Lindenstraße«, hübsch auf Einzel- und Kollektivrollen verteilt, jede Woche aufs Neue als Abziehbild des Lebens, in dieser besten aller möglichen Welten. »Lindenstraße« als mediale Quasi-Realität. Dieses Schema wird selbst dort durchgehalten, wo vermeintliche Ausreißer in Handlung und Personal suggerieren, die Realität der Parallelwelt namens »Lindenstraße« drohe ins tatsächlich und nur noch Irreale abzuheben. Der mit dem Fortschreiten der Serie erwachsen gewordene Klaus Beimer mutierte erst vom niedlichen Nesthocker Klausi zum Nachwuchs-Neo-Nazi auf Zeit (und danach retour zum bemühten Gutmenschen ohne echten Durchblick), nachdem vorm eigenen Wohnzimmerfenster die Asylbewerberunterkünfte abfackelten. Und der als kleinbürgerliche, dumpfdeutsche J.R.-Ewing-Karikatur auftretende Olaf Kling vollführt erst mit seiner Maschinenpistole Schießübungen im Wald als Probe für den Amoklauf, nachdem wir aus entsprechenden Nachrichtenmeldungen wissen, dass solche Zeitgenossen tatsächlich da draußen frei herumlaufen und vor sich hinticken. »Lindenstraße«, das ist der sonntägliche Terror der Alltäglichkeit im 30-Minuten-Format. In homöopathischer Dosis, trotz allen Moralismus, der zuweilen aus den Folgen trieft, ohne Heilungseffekt. Was bleibt, ist die Blässe dessen, was man schon kennt. Im Falle der »Lindenstraße« aber lieben wir diese Blässe. Weil wir denken, in der Kulisse ...

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