Grauen vor Sinnleere

Von 100 Jahren geboren: Paul Nizan

  • Raimund Petschner
  • Lesedauer: 4 Min.
Es gibt nur noch zwei Arten von Menschen«, so fangen Sätze an, die zu Ausmerzungsgedanken und -taten führen können, und so beginnt ein Satz von Paul Nizan in seinem Erstling Aden, erschienen 1931: »Es gibt nur noch zwei Arten von Menschen, die nur durch den Haß verbunden sind, die Art, die zerstört, und die Art, die sich nicht zerstören lassen will. Zwischen diesen Arten gibt es nur den Krieg.« Aden ist kein Roman und das Zitierte nicht etwa Figurenrede. Nizan, 1905 geboren, wohl auch ein Kind des Krieges, von dem er schreibt, dass »die Feuersbrünste, das Geheul der Sirenen, die winselnden Hunde« den »Kindern Spaß« gemacht hätten, weiß mit dem Bürgerleben, das ihm nach Absolvierung der Ecole Normale Supérieure Mitte der zwanziger Jahre offen steht, nicht viel anzufangen.
Dies Leben erscheint ihm allzu absehbar, durchreguliert, von Wertezierat zusammengehalten, den in Wahrheit der Krieg schon in alle Winde zerstreut hat. »Wir wissen ja, wie unsere Eltern leben. Ungeschickt, unglücklich wie Katzen, die Fieber haben, wie Ziegen, die seekrank sind. [...] Eines wissen wir: die Menschen leben nicht so, wie ein Mensch leben müßte. Aber wie das wirkliche Leben aussehen müßte, wissen wir noch gar nicht.«
So bricht er 1926 ins weit Entfernte, die britische Kolonialstadt Aden auf, und schlägt sich dort bis 1927 als Hauslehrer durch. Was er findet, ist ein »Europaextrakt«: »Die Grundlagen des westlichen Lebens traten offen zutage, die Menschen waren nackt wie anatomische Modelle.« Der Alltag der Geschäfte schien keiner Verbrämungen, keiner Überhöhungen zu bedürfen, man las keine Gedichte, »es wurde nichts gesungen, nichts gewagt, nichts gemalt«. Wenn man ihnen den Bauch aufgeschlitzt hätte, so meint er »wäre Kleie herausgekommen«. Als Nizan nach Frankreich zurückkehrt, ist ihm bewusst, dass auch dort der homo oeconomicus herrscht, der von den Abstraktionen des Geldes besetzte und mit ihnen die Welt okkupierende Mensch - »die Art, die zerstört«.
Ein Spannungsfeld hat Nizan durch sein ganzes Werk hin bearbeitet: das Ungenügen am Leben, das Grauen gerade der Jüngeren vor Sinnleere, Entpersönlichung sowie einer hohlen Legitimations-, Dekorations- und Kompensationskultur - und die Kritik des Ganzen, des Wirtschafts- und Herrschaftssystems, dessen integratives Moment jenes falsche Leben zu sein scheint. Ekel und persönliche Not, Analyse und Kampf. Changer la vie, Changer le monde, Das Leben ändern, die Welt ändern. Jahrzehnte nach Nizan, 1968, waren diese Formeln an den Wänden von Paris zu lesen. Womit beginnen? Mit der Welt? Mit dem Leben? Nach der Rückkehr aus Aden tritt Nizan in die Kommunistische Partei ein, er heiratet, er promoviert, verkehrt in den fluktuierenden Intellektuellengruppen von Paris, die teils eine Synthese von Kommunismus und Surrealismus anstreben: um den homo oeconomicus nicht nur zu besiegen, sondern ihn auch radikal mental zu überschreiten. Was autobiografischer Hintergrund zu seinem letzten Roman Die Verschwörung war.
Nach Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes sagt sich Nizan 1939 - so wie viele französische Kommunisten - von der KPF los. Da liegt, im Alter von vierunddreißig, sein literarisches und publizistisches Lebenswerk schon fast vollständig hinter ihm: Hunderte von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, regelmäßig unter anderem in L'Humanité, das Pamphlet Aden, der Roman »Das Leben des Antoine B. (1933), der die Misere einer zerrissenen, entfremdeten Existenz schildert und jetzt in einer Neuausgabe herauskam, Das Trojanische Pferd (1935) und sein letzter Roman, Die Verschwörungvon 1938, der Motive noch einmal entfaltet, die in Aden bereits anklingen: »Es war in der Tat ein hartes Jahr für junge Leute, die alle ihre Hoffnungen in die Verschärfungen der Spannungen setzten und die ihre einzig wünschenswerte Zukunft darin sahen, keine Zukunft zu haben.« Der Friede, das bürgerliche Leben erscheinen ihnen, den hochgebildeten Bürgersöhnen, als »Zeit der Apathie«, und der Ausruf von Théophile Gautier aus dem 19. Jahrhundert »Plutôt la barbarie que l'ennui!« (»Lieber die Barbarei als der Überdruß!«) scheint über ihrem Leben zu stehen. Nizan fällt als Soldat im Jahr 1940. Zwanzig Jahre später wird Jean-Paul Sartre, sein ehemaliger Studienkollege, ein vielbeachtetes Vorwort zu einer Neuausgabe von Aden schreiben, und wenige Jahre darauf, um 1968, wird eine Revolte Nizan als einen der Ihren betrachten.


Paul Nizan: Das Leben des Antoine B. Roman. Aus dem Französischen von Gerda Scheffel. DuMont. 259 Seiten, geb., 19,90 Euro.
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