Kurze Geschichte einer langen Ehe

Ruth Pätsch saß mit ihrem Mann Erwin nach 70 Jahren Ehe genauso aufgeregt vor dem Altar wie bei der Hochzeit

  • Lesedauer: 3 Min.
Mein Mann und ich leben schon lange in unserem Haus in Dahlem. Ich seit 1947, er seit 1949. Dass wir hier unsere Gnadenhochzeit feiern würden, hätten wir früher nie gedacht. Wir lernten uns Ende der 20er Jahre in der von Fritz Jöde gegründeten Volksmusikschule kennen. Ich war eine »höhere Tochter« aus gutbürgerlichem Haus, er arbeitete als Feinmechanikergeselle in einer Fabrik. Aber die Liebe und die Musik überwanden alle gesellschaftlichen Unterschiede.
Mein Mann beendete sein Studium als Berufsschullehrer, fand eine Stellung und 1934 heirateten wir. Einer meiner Vettern traute uns in der Dahlemer Kirche und gab uns als Trauspruch: »Einer trage des anderen Last.« Nach einigen Jahren konnten wir ein kleines Haus in Lankwitz kaufen. Dort erschienen bald drei Kinder - und auch der Krieg.
1943 sollten alle jungen Mütter mit ihren Kindern aus Berlin raus. Ich bekam eine Unterkunft in Schwaben, in einer riesigen, fast unbeheizbaren Scheune. Unser viertes Kind verbrachte dort seine ersten drei Lebensjahre. Mein Mann musste in Berlin bleiben, weil seine Dienststelle, die »Reichsanstalt für Film und Bild«, Material für die Wehrmacht drehte und er deshalb als »unabkömmlich« galt. Im Mai 1945 geriet er in Gefangenschaft. Die Zeit bis zu seinem ersten Lebenszeichen war furchtbar. Völlig allein in der Fremde, ohne Geld musste ich die Kinder durchbringen. Außerdem hatte ich Heimweh nach Berlin. Als 1947 in Dahlem, im Haus meiner verstorbenen Eltern, zwei Zimmer frei wurden, wagte ich mit allen vier Kindern den Weg »schwarz« nach Berlin. In dem Dahlemer Haus lebte schon eine meiner jüngeren Schwestern. Sie half mir, wenn ich nicht mehr weiter wusste, weil nichts zu essen da war oder die Sozialunterstützung nicht reichte.
Im Herbst 1949 kam mein Mann aus russischer Gefangenschaft zurück. Er fand bald Arbeit, und endlich begann wieder ein normales Leben. Wir blieben in Dahlem. Die Kinder wuchsen heran, das Haus wurde schöner und der Garten bunter. Die ersten Kinder gingen aus dem Haus oder brachten ihre Partner mit. Wir feierten Hochzeiten und ab 1964 begrüßten wir die ersten Enkel. Wir konnten ihr Heranwachsen begleiten, durften sie manchmal hüten, und lernten wiederum deren Partner kennen. Wieder gab es Hochzeiten und Kinder: Wir Uralten - 97 und 94 Jahre alt - haben elf Urenkel. Vorläufig! Mit einer solch stattlichen Zahl von Nachfahren feierten wir im Dezember die Gnadenhochzeit. Alle kamen, obwohl es sich nur um Stunden des Zusammenseins handelte. Alle waren fröhlich, einander zugeneigt und sangen vierstimmig in der Kirche. Wie vor 70 Jahren saßen wir vor dem Altar. Allerdings konnte nur ich auf dem Stuhl Platz nehmen, weil mein Mann vor zwölf Jahren einen Schlaganfall hatte und seitdem auf den Rollstuhl angewiesen ist. Aber wir waren genau so aufgeregt und bewegt wie damals. Nur saßen dieses Mal alle unsere Lieben hinter uns. Ob wir in fünf Jahren noch einmal dort sitzen werden?

Aufgeschrieben von Jana Schrewe
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