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  • Politik
  • Tele-Tagebuch: »Raus aus der Haut« (ARD)

Auf der Suche nach Liebe

  • Peter Hoff
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein »deutscher Herbst« in der DDR? -Im realsozialistischen deutschen Staat hielt man sich immer viel darauf zugute, daß es hier niemals zu Terroranschlägen wie im kapitalistischen Gegenstück kam. Sich eine Entführung ä la Schleyer in Leipzig, Karl-Marx-Stadt oder Potsdam zu denken, fällt schwer, und ein Film, der solch ein Kidnapping zum Inhalt hat, muß wohl notwendig komische Züge tragen. Die Geschichte, die Torsten Schulz (Buch), Andreas Höfer (Kamera) und Andreas Dresen (Regie) 1977 in einer mittleren DDR-Stadt ansiedelten, entbehrt freilich auch nicht tragischer Momente. Marcus (Fabian Busch) liebt heimlich unheimlich Anna (Susanne Bormann), die ist aber in den Rockgitarristen Randy verknallt. Die Mädchen und Jungen der Abiturklasse sind von den Aktionen der RAF begeistert und stehen auf die Lieder von Renft, die der Partei nicht passen. Die Eltern sind frustriert, die Lehrer autoritär. Hilft nur eines: »Raus aus der Haut«!

Und als der bornierte Schulleiter Rottmann (Otto Mellies) bei Anna die »subversive« Renft-Platte zusammen mit »westlichen« Zeitungsausschnitten über die RAF entdeckt und beschlagnahmt und dann Marcus dabei überrascht, wie er das »belastende Material« seines Schwarms aus dem Direktorenzimmer

klauen will, sind die Studienbewerbungen der beiden Schüler in Gefahr Anna kommt auf die Idee und Marcus hilft aus Liebe, sie zu realisieren: Rottmann wird entführt! Von nun an laufen Schleyer- und Rottmann-Entführung parallel, und beide enden tragisch.

Wie in dieser Exposition überschneiden sich in der Filmhandlung immer wieder komische mit tragischen Momenten. Der Pennälerstreich bekommt eine politische Aura. Die Filmautoren, zur Handlungszeit selbst noch Schüler, vermeiden Überzeichnungen. Die Vorgänge gewinnen durch Verkürzungen an Härte, Detailtreue in der Milieuzeichnung und im historischen Ambiente sollen keine Nostalgie wecken, die DDR hatte ihre dunklen Seiten, die sich wohl niemand zurückwünscht. Sie verzichten aber auch auf Klischees. Es gibt keine brutalen Tyrannen und keine Widerständler in diesem Figurenensemble, und doch widerfährt allen Figuren gleichermaßen ihr Recht. Die Action-Story bereitet den Raum für ein Kammerspiel, das sich um die Gestalt des als Geisel genommenen Direktors entwickelt. Der vorgebliche Betonkopf erweist sich als ein gebrochener Mann, der die eigene Verletztheit hinter der straffen Haltung des unnahbaren Funktionärs verbirgt. Otto Mellies spielt ihn als einen einsam gewordenen alternden Mann, der sich an abstrakte Ideale klammert, hat er doch die liebevolle Beziehung zu lebendigen Menschen verlo-

ren. Freilich kann er nicht »aus seiner Haut«, bleibt er in seiner Selbstentfremdung befangen. Als jene Überzeugungen, an die er sich klammerte, für ihn zerbrechen, als der »Apparat« über ihn hinwegrollt, letztlich niemand ihn vermißt, er schließlich als lästiger Störer einer Ordnung, an die er selbst sich so fest klammerte, abgeschoben werden soll, stirbt er Paradoxe Verkehrung der Situation: vielleicht war er nur während seiner Gefangenschaft im Keller von Annas Oma für Momente einmal frei.

Die Oma wird von Christel Peters gespielt, auch sie beiseite gestellt, eine lebenskluge Frau, die Verständnis für die Jungen hat, ihnen zu helfen versucht. Frau Peters kostet die komischen Züge dieser alten Frau darstellerisch aus, zeigt die Brüche in dieser Gestalt, treibt die Flucht in die Krankheit bis in die Groteske und nimmt sich gleich darauf mütterlich ihrer »Geisel« an. Der Film gewinnt durch so differenzierte Rollenauffassungen sehr reizvolle Halbtöne, die es erlauben, der Handlung alle ihr zukommende Härte zu lassen; die Seelenlosigkeit eines gesellschaftlichen Mechanismus vorzuführen, der über menschliche Schicksale hinweggeht, ohne daß die Autoren diese Gesellschaft denunzieren. Die im Hintergrund parallel geführte Schleyer-Handlung macht die politische Dimension deutlich: die aussichtslose gesellschaftliche Situation in beiden deutschen Staaten und die verzweifelte Suche junger Menschen nach Veränderung.

Es bleibt ein Liebesfilm; freilich wird auch verständlich, warum es gerade jungen Leuten seinerzeit so schwerfiel, dieses Deutschland, ob rechts, ob links der Elbe, zu lieben. Und vielleicht noch immer schwerfällt.

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