Leben in zwei Welten

Gesellschaftlicher Widerstand gegen Zwangsverheiratung

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.

Für Sonnabend haben Parteien und Verbände in Berlin zu einer Demonstration »Nein zur Gewalt gegen Frauen« aufgerufen. Anlass ist der Mord an die 23-jährige Hatun Sürücü. Die Bluttat geschah am 7. Februar. Gegen 21 Uhr wurde sie auf offener Straße an einer Bushaltestelle im Berliner Bezirk Neukölln durch drei Schüsse aus nächster Distanz ermordet. Eine Woche später werden die drei Brüder der jungen Mutter eines fünfjährigen Kindes verhaftet. Sie sollen die Tat im Namen der Familienehre begangen haben. Sie schweigen bisher zu den Vorwürfen.

Was geschieht da mitten unter uns? Ein Mord im Namen der Ehre - wie passt das zusammen? Es passt nicht zusammen, und doch sind die Täter überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Sie werden gestützt von Angehörigen, von Gleichgesinnten und bekommen offenen Beifall von Schülern einer Schule in der Nähe des Tatortes. Hatan Sürüci war ausgebrochen aus den hierarchischen Strukturen, hatte einen selbstbestimmten Weg gewählt, sich von ihrem von den Eltern aufgezwungenen Mann gelöst und in Berlin eine Berufsausbildung als Elektroinstallateurin fast abgeschlossen. Sie sprengte damit die Fesseln und forderte den traditionellen Familienverbund heraus. Zwangsverheiratungen sind kein Phänomen vergangener Epochen. Menschenrechtsvereine und Frauenorganisationen machen seit Jahren auf dieses Problem aufmerksam und registrieren eine zunehmende Tendenz. Die deutsch-türkische Religionssoziologin Necla Kelek geht davon aus, dass jede zweite türkische Ehe in Deutschland auf Grund von Vereinbarungen der Eltern zu Stande kommt. Dieser elementaren Menschenrechtsverletzung müsse entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden, schreibt sie zu dieser zeitgenössischen Art der Sklaverei. 5000 Frauen werden jährlich weltweit im Namen der Ehre ermordet, schätzt die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. In Berlin wurden in den letzten Monaten vier Frauen umgebracht, weil sie »Schande« über die Familie gebracht hatten. 2003 wurden in Berlin 13000 Fälle häuslicher Gewalt registriert. Für Giyasettin Sayan, der für die PDS im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt, ist der Mord an Hatun Sürücü ein besonders tragischer Fall, der ihn sehr persönlich berührt. Er kannte das Opfer, und er kennt die gesellschaftlichen Umstände, die zu solch einer Tat führen. Schon mehrfach ist er als Vermittler in Familienkonflikten in Erscheinung getreten, hat gemeinsam mit dem Imam der Saladin-Eyyubi-Moschee eingegriffen, wenn es um die Ehre der Familie ging. »Verschiedene Volksgruppen - ob kurdische oder libanesische Gemeinschaft - leben hier in Berlin jenseits der Gesellschaft«, weiß der PDS-Politiker, dessen familiäre Wurzeln in Ostanatolien liegen. »Die Menschen kamen nach Deutschland und sind aufgewachsen in traditionellen Verhältnissen, wo die alten Familien- und Stammesstrukturen noch erhalten sind. Es herrschen dort wie hier andere Vorstellungen von Recht und Moral.« Der Mann, der keinen Beschränkungen unterworfen ist, trägt die Verantwortung für die Ehre der Familie, die Frau ist traditionell zum Gehorsam verpflichtet. Ihre Ehre, ihre Unberührtheit vor der Ehe, wird zum Allerheiligsten erklärt. Wird die Ehre beschädigt, muss der Mann eingreifen, um sie wieder herzustellen. Tut er es nicht, dann nimmt nicht nur seine Person, sondern die gesamte Familie gegenüber anderen Familien Schaden. Sie wird geächtet, die Chancen auf gesellschaftliche Anerkennung sinken. Deshalb beauftragen Familienoberhäupter jüngere männliche Mitglieder, die »Schande« zu tilgen - nicht selten im Einverständnis der Mütter, wenn die »Ehre« der Töchter »verletzt« wurde. Die Einwanderer der ersten oder zweiten Generation haben mit den überlieferten Traditionen in den meisten Fällen keine Probleme. Die Konflikte beginnen, wenn die Kinder hier in Deutschland geboren sind und sie dann durch Kindergarten und Schule auf eine Welt stoßen, die sich grundsätzlich von der des Elternhauses, des Freundeskreises und der Stammeszugehörigkeit in der Heimat der Vorfahren unterscheidet. Dann beginnt die traditionelle Gemeinschaft zu bröckeln. Der Konflikt bricht aus. Der Zwangsverheiratung gehen oft andere Repressalien für die Mädchen voraus. Verbot, am Sportunterricht, am Schwimmen oder an Klassenausflügen teilzunehmen, Verbote von Freundschaften mit Deutschen. Viele Mädchen fügen sich, weil sie die familiären Hierarchien auch als Schutz ihrer Persönlichkeit empfinden. Diese Problematik mischt sich mit anderen sozialen Komponenten. Migrantenfamilien sind besonders betroffen von Arbeitslosigkeit, ihre Heranwachsenden haben geringere Ausbildungschancen. Kritisch bewertet Sayan den 10-Punkte-Plan des Türkischen Bundes von Berlin-Brandenburg »zur Bekämpfung der Intoleranz gegenüber Frauen«. Nicht, dass er sich mit den Aussagen nicht identifizieren kann. Seine Befürchtung ist, dass hier blinder Aktionismus an gezeigt wird, in der Sache kaum Veränderungen zu erreichen sind. Auch bei islamischen Organisationen stoßen Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde auf öffentliche Ablehnung. Die Islamische Föderation, ein Zusammenschluss verschiedener Moschee-Gesellschaften, hat sich beispielsweise gegen Zwangsverheiratung ausgesprochen und unterstützt die Initiative, Zwangsheirat unter Strafe zu stellen. Scharfe Worte von der Türkisch-Islamischen Union: Ehrenmorde sind inakzeptabel. »In keiner Religion, auch nicht im Islam, kann Mord gerechtfertigt werden.« Doch unter der Decke der offiziellen Erklärungen wird der traditionelle Ehrencodex der Familie religiös verbrämt hochgehalten. »Wir müssen Zugang zu den Familien finden, nur so lassen sich Strukturen der Vergangenheit aufbrechen«, meint Sayan. »Die Gesellschaft muss einen Nerv bekommen für die Probleme dieser...

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