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Siegerrecht oder Sieg des Rechts?

DDR-Politiker der »Wende«-Zeit stritten über Strafprozesse und Versöhnung statt Vergeltung Buchpremiere Von Claus Dümde

  • Lesedauer: 5 Min.

Ein halbes Jahr nach dem Urteil im Politbüroprozeß liegt eine Dokumentation über dessen Ende vor. Zur Buchpremiere in Berlin am Freitagabend waren Politiker von Bündnis 90/Grüne, CDU, PDS und SPD geladen, um miteinander und mit dem Publikum über »Siegerrecht oder Sieg des Rechts?« zu streiten. Einig wurden sie wieder nicht.

Ein halbes Jahr nach Ende des Politbüroprozesses am Berliner Landgericht liegt zwar noch immer nicht das schriftliche Urteil gegen bzw über Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber vor. Der Richter Josef Hoch tut sich offenbar äußerst schwer damit und schöpft die bei 118 Verhandlungstagen maximal zulässige Frist von 31 Wochen weitgehend aus. Doch in 14 Tagen soll jener Band der von Dietmar Jochum zusammengestellten Dokumentationen gedruckt vorliegen, der die Plädoyers, den Extrakt der mündlichen Urteilsbegründung, Stellungnahmen von und Interviews mit Prozeßbeteiligten, anderen Juristen, Politikern und Historikern sowie eine Vielzahl von Berichten, Reports und Kommentaren der Presse, darunter aus dem ND, enthält. Das Urteil

von Peter-Michael Diestel (CDU): Daß darin das Für und Wider festgehalten wird, sei beispielhaft. Denn meist würden ja »die Sieger die Geschichte schreiben und in der Wärme des Sieges sicher auch sehr einseitig«.

Der Moderator hatte daran erinnert, daß Diestel 1993 zusammen mit Lothar de Maiziere und Hartmut Perschau in einer Erklärung zu »Versöhnung statt Vergeltung« aufgerufen hatte, daß Wolfgang Ullmann und andere zuvor schon mit der Idee eines »Tribunals« gescheitert waren. Ob es dafür noch eine Chance gebe, sei offen, meint der bündnisgrüne Europaabgeordnete. Er diagnostizierte eine »unbefriedigende Situation in der Auseinandersetzung mit dem Unrecht vor 1989«. Zwar sei strafrechtlich »eine ganze Menge geschehen, was notwendig war«, doch »die gesellschaftliche Aufarbeitung«, die sich nicht mit der juristischen, politischen und historischen deckt, sei »überhaupt noch nicht richtig angegangen« worden.

Diestel betonte, »daß 40 Jahre DDR nur ganz begrenzt mit dem Strafrecht bemessen, bewertet und schon gar nicht abgeurteilt werden« können. Ihm sei »blanker Haß« entgegengeschlagen von Leuten, »die meinten, mit der Sense oder dem Säbel dieses Thema bearbeiten zu können«. Er glaube, daß heute »die Gräben so tief sind wie noch nie«, daß es nötiger denn je sei, »den Haß mit dem

Mittel der Versöhnung zu bekämpfen«. Deshalb müsse die Politik handeln und im neunten Jahr nach der politischen Wende Signale setzen.

Der Theologe Richard Schröder (SPD) fragte »Versöhnung - wer mit wem?«. Diestel antwortete: »Die Sieger mit den Besiegten«. Sieger sind für ihn jene, »die heute die Strafgerichte zusammenstellen«, obwohl es »einmal eine deutsche Regierung gegeben hat, die bewaffnetste Macht in Europa, die es je gegeben hat, die freiwillig die Macht abgegeben hat«. Das hätte zu einer Atmosphäre von politischer Amnestie führen müssen, der Versöhnung und nicht der Vergeltung.

»Siegerjustiz ja oder nein?« Auf die Frage des Moderators trickste Ulimann. Für ihn sei das ein Wort aus dem kalten Krieg und die friedliche Revolution« von '89 dessen Beendigung. Er verstehe nicht, wo da Sieger und Besiegte waren. Es gebe zwar »Wessis, die sich als tolle Sieger fühlen«. Aber am Runden Tisch, wo auch die SED-PDS saß, habe niemand darüber geredet, auch in der Volkskammer nicht. Da sei die Vereinigung das Thema gewesen und nicht, wieviel von der DDR übrigblieb. Für Schröder geht es bei den Strafverfahren gegen frühere DDR-Bürger »zunächst auch nicht um Vergeltung, sondern um die Feststellung von Verantwortlichkeiten. Ich kann es nicht hinnehmen, daß die Toten an der Mauer als vom Blitz erschlagen betrachtet werden.«

Amnestie und Versöhnung vor rechtskräftigen Urteilen sei die falsche Reihenfolge.

Er bestreite nicht, daß dies rechtsstaatliche Verfahren und keine Lynchjustiz sind, wie sie u. a. Biermann gefordert habe, sagte Uwe-Jens Heuer (PDS). Aber diese Justiz verletzte, was auch die vorliegende Dokumentation belege, »in gro-ßen Teilen das geltende Grundgesetz«, z. B. das Rückwirkungsverbot. In einer ganzen Reihe von Fällen werde nicht DDR-Recht angewandt, wie es vorgeschrieben ist, fuhr der Bundestagsabgeordnete fort. Und die Richter »wenden in vielen Fällen bundesdeutsches Rechtsdenken auf ostdeutsche Vergangenheit an«. Versöhnung müsse bedeuten, daß »mit dem Bruch geltenden Rechts« Schluß gemacht wird.

Der Historiker Siegfried Prokop konstatierte, vieles, was er in der Dokumentation gelesen habe, »war triefend ideologisch«, nicht nur Krenz, sondern auch Generalstaatsanwalt Schaefgen. »Hier tobt der kalte Krieg.« DDR-Machthaber würden verurteilt, sowjetische Oberbefehlshaber zu Ehrenbürgern Berlins gemacht. »Das ist doch Wahnsinn.«

Aus dem Publikum nahm der Chef der Berliner Sonder-Staatsanwaltschaft II Stellung: Die Strafjustiz sei nur deshalb überfordert, DDR-Unrecht zu ahnden, weil DDR-Recht angewendet werden müsse, sagte Christoph Schaefgen. Die

Opfer könnten sich über die Rechtslage beklagen, nicht die Täter Das Rückwirkungsverbot habe schon der Verfolgung von »NS-Unrecht« entgegengestanden, doch sei die Radbruchsche Formel in der DDR wie der Bundesrepublik gutgeheißen worden und werde auch heute herangezogen, aber nur bei schwerstem Unrecht, Eingriffen in das Leben.

Da kam Widerspruch aus dem Publikum: Der Bundestag hat 1952 ausdrücklich die Anwendung des Artikels 7, Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention abgelehnt, der die Bestrafung schwerster Verbrechen auch dann fordert, wenn ihr formal das Rückwirkungsverbot entgegensteht. Prokop erinnerte daran, daß kein einziger jener Nazi-Richter verurteilt wurde, die über 30 000 Todesurteile fällten. Und Heuer ergänzte: »Die Richter der Bundesrepublik waren deshalb nicht in der Lage, Nazi-Richter zu verurteilen, weil sie Nazi-Richter waren.«

Ullmann sieht in dieser Hinsicht seit 1989 einen Fortschritt. Den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996, der das Rückwirkungsverbot nur für frühere DDR-Bürger partiell aufhebt, interpretiert er als generellen Durchbruch im Sinne der Menschenrechte. Denn wer dem Prinzip der »Vermutung der Rechtmäßigkeit von staatlichem Handeln« huldige, beweise »Weltfremdheit«. Wer wagte ihm da in der radikalkapitalistischen Bundesrepublik des Jahres 1998 zuwidersprechen?

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