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Die Reisezeit kann nicht alleiniger Maßstab sein

Dagmar Enkelmann (42)

  • Lesedauer: 5 Min.

Das verheerende Zugunglück von Eschede beherrschte tagelang die Medien - unvorstellbare Bilder Kommentare vom Ort des Geschehens gab es, aber auch unzählige Spekulationen über die Ursachen. Einfache Antworten waren schnell zur Hand, kluge Ratschläge ebenso.

Die Gefahr zu entgleisen, ist bei hoher Geschwindigkeit geringer als bei langsamer Fahrt. Das ist eine Tatsache - wie auch die, daß Unglücke in Ausmaß und Schwere proportional zur Geschwindigkeit zunehmen. Wir alle'wissen,' daß “Techriik'nie perfekt und nicht beherrschbar ist. Mit jeder neuen Technologie entstehen neue Dimensionen von Unglücken. Vor diesem Hintergrund ist es dringend geboten, innezuhalten und zu überlegen, welche Risiken wir bereit sind einzugehen - für zehn Minuten Zeitersparnis.

Die ICE-Tragödie eignet sich aber denkbar schlecht, mit dem erhobenen Zeigefinger zu hantieren. Dennoch stehen Sicherheitsstandards, die technologische Ausstattung des rollenden Materials und die Anforderungen an den Fahrweg, die »Schiene«, zu Recht erneut zur Diskussion, auch das Streben nach immer höheren Geschwindigkeiten ist zu hinterfragen.

Die Bahn ist in den Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern, insbesondere Flugzeug und Auto, eingetreten. Dabei konnte sie durchaus Boden gutmachen, das ist unbestritten. Hier weiter zu gewinnen, erhoffen sich einige Verantwortliche bei der Bahn durch noch höhere Geschwindigkeiten. 300, 350 Stundenkilometer werden angepeilt, beim Transrapid sogar mehr als 400. Man lebt im Glauben, die Reisezeit sei der einzige Maßstab für die Kundinnen. Das stimmt nur sehr bedingt. Leider gibt es wenige Untersuchungen darüber, was Leute zum Umsteigen auf die Bahn verleiten würde. Sicher ist aber- Die Geschwindigkeit allein ist es nicht.

Die Kundinnen erwarten eine zuverlässige, pünktliche Beförderung von A nach B, freundlichen Service, Komfort, Sauberkeit sowie einen Preis, der sich durch Leistung rechtfertigt - und umgekehrt. Natürlich wird ebenso eine akzeptable Reisezeit erwartet, die vernünftige Anschlußmöglichkeiten einschließt. Diesen Erwartungen wird die Bahn bislang noch nicht gerecht: Überlastung von Zügen in den Hauptreisezeiten, unzureichende Kundeninformationen, unzumutbare Bahnhofsanlagen. Hinzu kommen ausgedünnte Nahverkehrsnetze und Fahrpläne in vielen Bundesländern, fehlende bahnseitige Alternativen wie Sammel- und Nachttaxen, Rufbusse oder Bedarfshalte in Zeiten schwachen Verkehrs sowie steigende Tarife, ohne daß

Verkehrspolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsgruppe

ND-Foto: Burkhard Lange

sich die Leistungen für den Kunden adäquat und spürbar verbessern.

In der Bundesrepublik hat die Bahn nicht gerade die besten Bedingungen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Zudem konkurrieren die Verkehrsträger mit immer fragwürdigeren Mitteln -Dumpingpreisen etc. - untereinander Dem in Sonntagsreden stets geforderten Vorrang der Schiene steht nach wie vor eine deutliche Bevorzugung der Straße entgegen. Anders als das Auto muß die Bahn ihren Fahrweg selbst finanzieren. „Die. /T/ßssenpreise werden auf die Fahrkosten des Passagiers umgeschlagen. Anders als das Flugzeug, das weitgehend von der Flugbenzinsteuer befreit ist, hat die Bahn die Mineralölsteuer zu bezahlen. Auch diese Kosten hat letztlich der Kunde zu tragen. Eine gerechte Anlastung der Kosten des Verkehrs, die Umwelt- und soziale Belastungen berücksichtigt, findet nach wie vor nicht statt. Die Bahn war immer das Stiefkind bundesdeutscher Verkehrspolitik, sie ist es auch heute noch.

Die Privatisierung mittels der Bahnreform hat, statt den Druck von der Bahn zu nehmen, ihn weiter verstärkt. Öffentlicher Verkehr als staatliche Daseinsvorsorge wurde aus dem Grundgesetz gestrichen. Die Bahn unterliegt damit im wesentlichen marktwirtschaftlicher Regularien. Die Folge: Koste es, was es wolle, muß sie schwarze Zahlen schreiben. Seit einigen Jahren ist dabei zu beobachten, daß die technologische Entwicklung vordergründig unter dem Aspekt höherer Geschwindigkeit und nur hintergründig unter dem der Sicherheit erfolgt.

Die Verantwortlichen der Bahn werden in der nächsten Zeit viele drängende Fragen zu beantworten haben. Warum waren die alten ICE-Wagen nicht mit Vollrädern ausgestattet, wie dies bei den

ICE der neuen Generation der Fall ist? Warum wird jede noch so kleine Störung in der Klimaanlage gemeldet, warum jedoch existiert kein Warnsystem für defekte Radreifen? Anstatt auf das Prestigeprojekt Transrapid zu setzen, hätte die Bundesregierung ihre Forschungsgelder besser genutzt, wenn sie in das Rad-Schiene-System investiert hätte.

Es läßt sich darüber spekulieren, was wäre, wenn die Bahn bei ihren Hochgeschwindigkeitszügen ebenfalls wie der französische TGV sogenannte Jacobs-Drehgestelle eingesetzt hätte, die ein Kippen einzelner Waggons mit dem berüchtigten Domino-Effekt verhindern sollen. Unter den nun zutage getretenen Sicherheitsproblemen ist aber das Nachdenken darüber gestattet, ob ein Vergleich zwischen ICE und TGV dazu ernsthaft angestellt worden ist und welche Resultate er brachte.

Die Bahn ist nach wie vor ein sicheres Verkehrsmittel, sie hat allerdings einen Ruf zu verlieren. Während Reisende im Flugzeug oder Auto - bewußt oder unbewußt - ein gewisses Risiko einkalkulieren, war das bei der Bahn bisher nicht der Fall.

Vor allem darf Geschwindigkeit keinesfalls zum alleinigen Maßstab werden. Besser sollte in Komfort, Ausstattung, freundliche Bahnhöfe und günstige Tarife investiert werden - als in den Transrapid. Hinter der Ablehnung des Transrapid stehen nicht nur finanz- und verkehrspolitische Erwägungen. Wenn das Unglück von Eschede eine Konsequenz haben muß, dann; die, daß die Sicherheit der Fahrgäste ganz oben auf die Prioritätenliste zu setzen ist. Gerade der Transrapid weist bis dato eine Reihe Sicherheitsmängel auf. Bisher konnte man beispielsweise den Begegnungsverkehr nur am Computer simulieren. Komplikationen wie rasche Materialermüdung treten bei den Stelzenbolzen des Transrapid auf. Bei Minustemperaturen kam es immer wieder zu Störungen im Betriebssystem. Alle diese Bedenken wurden bislang in den Wind geschlagen. Es wäre an der Zeit, die jüngsten Ereignisse auf der Schiene zum Anlaß zu nehmen, der Sicherheit die Aufmerksamkeit zu schenken, die bisher die Geschwindigkeit auf sich zog.

Sicher- Die Bahn kommt nicht umhin, sich den Anforderungen an die Geschwindigkeit zu stellen. Dabei sollte allerdings die Systemgeschwindigkeit im Gesamtnetz, das heißt günstige Reisezeiten durch Vernetzung und Vertaktung der Verkehrsträger, wichtiger sein als ein teueres Hochgeschwindigkeitsnetz zwischen den großen Ballungsräumen mit nur unzureichender Verbindung ins Umland. Es gilt, vorrangig die anderen Systemvorteile der Bahn vor allem das noch vorhandene Netz in der Fläche - zu erhalten und auszubauen. Damit hätte die Bahn eine sichere Zukunft.

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