Die Freiheit der Benutzung

Symposium in der Akademie der Künste Berlin

Die neue Akademie der Künste am Pariser Platz ist ein Gewinn für Berlin. Eine Woche nach der offiziellen Eröffnung lässt sich dies ganz deutlich feststellen. Berlin-Besucher jedenfalls sind ganz erfreut über den offenen gläsernen Kubus. Der bietet sich zum einen als Verbindungsgang zwischen dem als Freiluftsensation angenommenen Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und dieser brandenburgisch-preußischen Nostalgiestube Pariser Platz an. Zum anderen handelt es sich bei der Akademie um das einzige wirklich offene Gebäude an diesem Platz und bietet den vom Besichtigungs-Marathon erschöpften Touristen die Gelegenheit zum Ausruhen. Das Foyer ist bevölkert von verschwitzten und leicht euphorisierten Menschen, die nur allmählich mitbekommen, dass es sich nicht nur um eine großzügig angelegte Wartehalle handelt. Subtil werden sie mit Kunst kontaminiert, gewissermaßen unterhalb der bewussten Aufnahmeschwelle gelangen ästhetische Impulse in den Wahrnehmungsapparat.
Mit der besinnlichen Ruhe, die am Hanseatenweg vorherrschte - oft stellte sich da auch das Gefühl gespenstischer Verlassenheit ein -, ist es nun vorbei. Das verführt zum Jubilieren. Andererseits bringen Menschenmassen ihren eigenen Lärmpegel mit, der einen Kunstort doch erheblich profaniert. Der Invasion der mit Wasserflasche und Stadtplan ausgerüsteten Großstadt-Scouts versuchte die Akademie deshalb mit der etagenweisen Schließung des Gebäudes Herr zu werden. Über einen Hindernisparcours diverser Absperrungen musste man sich also den Weg zum zweitägigen Symposium »Freiheit Kunst« bahnen und bekam sogleich eine ganz praktische Einführung in die Möglichkeiten und Beschränkungen von Freiheit geboten: Denken, so signalisierten die Absperrungen, ist nur in der Ruhe möglich. Deshalb muss der Zustrom derer, die doch auch denken könnten, begrenzt werden.
Die Akademie jedenfalls entschied sich, ihre Souveränität durch Limitierung zu bewahren. Das Thema des Symposiums ist nun eines, das immer aktueller wird: Für die Akademie selbst, die am neuen Standort beweisen muss, dass sie nicht zum Ornament der benachbarten Mächtigen verflacht, sondern sich zum selbstbewussten - und weithin vernehmbaren - Erzeuger von Alternativen entwickelt. Auch für die Gesellschaft nimmt das Thema an Bedeutung zu: Je geringer die Ressourcen des Einzelnen, desto kleiner sein Spielraum und desto größer die Gefahr, die Mittel der Möglichkeiten zur Entfaltung nur um den Preis der Zweckgebundenheit durch den Auftraggeber zu erhalten. Das Symposium »Freiheit Kunst« touchierte diesen Komplex aber nur. Die Architektin Karla Kowalski beklagte sich über die vielen Verordnungen und Bestimmungen, die die Autonomie des Häuserbauers einschränken. Sie verschenkte die Gelegenheit, den Konflikt zweier Ebenen ästhetischer Modelle - der von Architekt und Stadtplaner - auszuloten. Auch der Filmwissenschaftler Ulrich Gregor beschäftigte sich nur auf der ökonomischen Oberfläche mit der Autonomie des Regisseurs bei der Kreation des kollektiven Kunstwerks Films. Seine simple These hier: Als die europäische Filmindustrie noch nicht so institutionalisiert war - also in den 20er und 30er Jahren - waren die Bedingungen für freie cineastische Arbeiten viel besser als später.
Der Philosoph Albrecht Wellmer vertiefte dann doch die Auseinandersetzung. Er unterschied zwischen der Autonomie des Künstlers (immer nur unvollkommen, weil der als Mensch wie als Künstler den Zumutungen und Forderungen der Gesellschaft ausgesetzt ist) und der Autonomie des Kunstwerks. Letzteres weise, wenn es sich denn um ein Kunstwerk handele, eine autoreferentielle Struktur, einen eigenen Sinn, auf, der über das Gewollte und Gemeinte hinausgehe und sich auch über die Zeitläufte erhalte. Wellmer wies zudem darauf hin, dass die Autonomie der Kunst gelegentlich gerade von Avantgarde-Künstlern angegriffen wurde. Im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts wurde die verspielte l'art pour l'art attackiert und in der Kunst vor allem nach dem Potenzial gesucht, das in der Gesellschaft Verdrängte und Vergessene herauszuarbeiten, die Kunst als Subversionsapparat zu gebrauchen und mit ihrer Hilfe auf eine bessere Gesellschaft hinzusteuern. Avantgardekunst zeichnete sich gerade nicht durch eine Autonomie von der Gesellschaft, sondern einen vehementen Zugriff auf sie aus.
Der Soziologe Dirk Baecker schließlich wendete den althergebrachten Begriff der Autonomie vollends in sein Gegenteil. Er stellte die »Autonomie des Zuhörers« (und Betrachters), der selbst entscheidet, ob er dem Vortragenden lauscht, sich dem dadurch angestoßenen Wirbel der Gedanken hingibt oder sich zu diesem Denkrausch von völlig anderen Einflüssen - etwa dem Vorbeiziehen eines Vogelschwarms über den Pariser Platz - verleiten lässt, der Autonomie des Vortragenden (oder Produzenten eines Kunstwerks) gegenüber. Die Autonomie des geäußerten Gedankens trifft dabei auf die Autonomie des - sich Ersterem auch verweigern könnenden - Rezipienten. Autor wie Publikum sind dabei einer »Ordnung der Gleichzeitigkeit« ausgesetzt. Nicht nur der Zuhörer lässt seine Gedanken schweifen (oder döst), auch der Redner denkt während des Sprechens an anderes und kann keinen Einfluss auf die Wahrnehmung des von ihm Gesagten beim Zuhörer nehmen; dieser nimmt schließlich »autonom« wahr.
Aus diesem Gedanken ließen sich während des Symposiums zwei Schlussfolgerungen ziehen. Autonomie entsteht erst als Reaktion auf Interventionen des anderen. Sie entwickelt sich im Wechselspiel mit Heteronomie und muss dynamisch und relational, nicht absolut gesehen werden. Der Soziologe Baecker legte hingegen Wert auf die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation. Nur Teile des Wahrgenommenen werden kommuniziert. Nur diese Teile wiederum können wahrgenommen werden. Kommunikation kann selbst nicht wahrnehmen, lediglich versuchen, die »Gedanken des Menschen, die in dessen Brust verschlossen sind«, (lt. der Philosophie von Montaigne, Pascal, Locke) in eine gesellschaftlich akzeptable Form zu bringen. Baecker sieht hierin die Aufgabe der Ästhetik als Philosophie der Wahrnehmung und Philosophie der Kunst. Während Kommunikation negiert werden könne - zu jedem Satz lassen sich Zustimmung wie Ablehnung formulieren -, gelte das für Wahrnehmung nicht, so Baecker weiter. Das Hören eines Tons, ein Bild, ein sensorischer Sinneseindruck können nicht gelöscht, höchstens - im Bereich der Kommunikation -verschwiegen, vergessen oder als Täuschung markiert werden.
Kunst hält Baecker nun - als neue Formulierung der sozialen Funktion von Kunst - für das einzige System, das doch Wahrnehmungen negieren kann: Indem es Alternativen schafft. Über einen großen wahrnehmungs- und kommunikationstheoretischen Bogen streicht Baecker hier die Fähigkeit der Kunst, Gesellschaft anders zu erfinden, heraus und verteidigt somit die autonome Stellung der Kunst. Jedenfalls lädt seine Theorie dazu ein. Man kann sie dazu benutzen, so wie Berlin-Touristen das Akademie-Gebäude als Erfrischungsraum und das Holocaust-Mahnmal als Irrgarten und Spielfläche der Empfindungen (zuweilen über die Intention des Urhebers hinausgehend) benutzen. Die hehre Kategorie »Autonomie« wird zur pragmatischen Selbstermächtigung im Umgang mit Umwelt. Das ist wahrlich aktuell, wahrlich zeitgenössisch. Leider auch trivial. Und so steht die Akademie der Künste auch nach der ersten Woche ihrer Eröffnung in einer merkwürdigen Spannung: Sie lässt Realität ins Haus fluten und verarbeitet diese, kann die Erwartung an deren wirkliche Durchdringung und Aufhebung aber nur teilweise erfüllen. Immerhin produziert sie das Paradox, gleichzeitig zu begeistern und zu enttäuschen - eine amalgamierte Stim...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.