Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

Kassensturz, der keiner ist

Rot-grüne Finanzexperten uneins über Existenz von Haushaltslöchern Von Kurt Stenger

  • Lesedauer: 4 Min.

Gewaltige Haushaltslöcher haben in den letzten Tagen die Finanzexperten der künftigen rot-grünen Bundesregierung entdeckt. Als Argument gegen zusätzliche Maßnahmen in den Bereichen Arbeitsmarkt oder Steuern taugen sie indes nur bedingt.

Es ist noch schlimmer, als wir vorhergesagt haben. Die Erblast der Regierung Kohl/Waigel schlägt voll durch auf die Haushalte.« Mit deutlichen Worten wandte sich die SPD-Finanzexpertin Ingrid Matthäus-Maier schon am Dienstagnachmittag nach ersten Gesprächen einer Arbeitsgruppe der künftigen rot-grünen Regierungsparteien an die Presse. Damit scheint all denen der Wind aus den Segeln genommen, die meinen, daß die künftige Koalition nach ihrem Start sofort mit großen und kostspieligen Reformen loslegen werde.

Im Detail soll es in dem vom Bundestag bereits verabschiedeten Haushaltsentwurf des bisherigen Finanzministers Theo Waigel für 1999 Risiken in Höhe von 20 Milliarden Mark geben. Der grüne Haushaltsexperte Oswald Metzger, der sich als besonders eifriger Rechner präsentierte, will zusätzlich zweistellige Milliardendefizite als Folge ausbleibender Kredite aus den Krisenländern Asiens

und Rußlands entdeckt haben. Solche Zahlen sind indes umstritten. So sagte ein Fraktionsexperte der SPD dem »ND«, derartige Angaben seien praktisch eine Einladung an die Adresse ausländischer Schuldner, nichts zu zahlen.

Wie sich die Summe von 20 Milliarden für 1999 berechnet, war in Bonn gestern nicht im Detail zu erfahren. Größere Brocken sollen sich beim Zuschuß für die Postpensionskasse (3 Milliarden), bei den Tilgungszahlungen für den »Erblastentilgungsfonds« (7,5 Milliarden) sowie bei den Bundesergänzungszuweisungen für Bremen und das Saarland (1,5 Milliarden) ergeben. Intern strittig ist offenbar, ob überhaupt von »Haushaltslöchern« gesprochen werden kann, für die keine Finanzierung existiert. Beispiel Bundesergänzungszuweisungen: An den Zahlungen von insgesamt 3 Milliarden Mark wollte Finanzminister Waigel die Länder hälftig beteiligen - eine konkrete Zusage für diesen Teil steht noch aus, ist aber theoretisch möglich. Beispiel Postpensionen: Theo Waigels - wenngleich wenig seriöse - Finanzierung steht zumindest für 1998, indem später ausgegebene Telekom-Aktien bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau zwischengeparkt wurden. Beispiel Erblastentilgungsfonds: Waigel hat die Tilgungszahlungen aus dem Bundeshaushalt ausgesetzt - eine Rücknahme dieser Entscheidung ist für die künftige Bundesregierung nicht zwingend. Die Arbeitsgruppe legte selbst Wert auf

die Feststellung, daß von einem Kassensturz, den die SPD zu Oppositionszeiten ankündigte, noch keine Rede sein könne. Wie »ND« gestern aus SPD-Verhandlungskreisen erfuhr, gibt es derzeit einen »permanenten Willensbildungsprozeß« mit fast stündlich neuen Zahlen. Darüber hinaus sei es vor allem »ein politisches Entscheidungsproblem«, wie mit der jetzigen Bestandsaufnahme umgegangen werde. Mit anderen Worten: Die Fragen, wie eventuelle Fehlbeträge zu decken und ob trotz schwieriger Haushaltslage zusätzliche Ausgaben - etwa für die Erhöhung des Kindergeldes oder der Bildungsausgaben - in Kauf zu nehmen sind, entscheiden nicht die Finanzexperten. Einigungen wird es bei den Koalitionsgesprächen durch die obersten Verhandlungsführer bzw erst später geben. Nicht verwunderlich ist also, daß sich die rot-grünen Finanzexperten der Frage einer politischen Bewertung ihrer Berechnungen nicht stellen wollten. Bislang war nur die ziemlich dehnbare Aussage zu vernehmen, daß allzu große finanzielle Spielräume derzeit nicht bestehen.

Dies bestätigte gestern auch Dieter Vesper, Haushaltsexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Zudem drohen Steuerausfälle und höhere Kosten der Arbeitslosigkeit, wenn das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes wegen der Folgen der internationalen Finanzkrisen unter den von Waigel

prognostizierten 2,5 Prozent liege, sagte er Gerade deshalb sei ein einseitiger Sparkurs »der falsche Weg«, so Vesper. Auch wenn er nicht der Verschwendung das Wort rede, plädiere er - gerade zur Gegensteuerung gegen die Gefahren - für Steuersenkungen besonders bei den niedrigen und mittleren Einkommen sowie für zusätzliche Gelder in den Bereichen Arbeitsmarktpolitik und Infrastrukturinvestitionen. Die öffentlichen Investitionen seien zwischen 1993 und 1997 um nicht weniger als ein Viertel zurückgefahren worden - ein unhaltbarer Zustand. Um dies zu finanzieren, fordert

das DIW seit längerem, auf den weiteren Abbau der öffentlichen Defizite zu verzichten und die Neuverschuldung gemäß dem realwirtschaftlichen Wachstum zu erhöhen. Die Frage, so DIW-Experte Vesper, sei allerdings, ob das Defizit die Investitionen übersteige, was die Verfassung nur in Ausnahmefällen zuläßt. Dies sei allerdings mit der drohenden Rezession begründbar.

Für Vesper ist das heftige Erschrecken über die Haushaltslage nicht nachvollziehbar. Die Probleme bei Postpensionskassen und Tilgungszahlungen seien doch seit langem bekannt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal