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Abendlandideologie

Die »Vertreibungen« - analysiert und polemisiert

  • Kurt Wernicke
  • Lesedauer: 3 Min.
Der 60. Jahrestag der Potsdamer Konferenz mit dem dort gefassten Beschluss, die außerhalb von Nachkriegsdeutschland verbliebenen Deutschen aus ihren Siedlungsterritorien nach dem übrig gebliebenen Deutschland auszusiedeln, lässt die Wellen zum Thema »Vertreibung und Aussiedlung« wieder einmal lebhafter aufschlagen. In Tschechien ist jetzt gar ein Streit zwischen Staats- und Ministerpräsident entbrannt (ND berichtete). Und in Deutschland ist den Verfassern des CDU-Wahlprogramms rechtzeitig eingefallen, dass sich eventuell bei der inzwischen schon dritten Generation der mit dem bundesgesetzlich vererbbaren Status »Vertriebener« versehenen Bundesbürger Wählerstimmen einfangen lassen, wenn man sich der seit Jahren erhobenen Forderung des »Bundes der Vertriebenen« annimmt, ein »Zentrum gegen Vertreibungen« zu installieren. Im Vorfeld der erwartungsgemäß aufschäumenden Debatte hat sich der Direktor des Fritz-Bauer-Instituts zur Geschichte des Holocaust an der Goethe-Universität Frankfurt (Main), Micha Brumlik, zu Wort gemeldet. Seine Untersuchung zielt auf des Pudels Kern. Herzstück seiner ausgiebig mit rechtstheoretischen, moralphilosophischen und sozialethischen Exkursen angereicherten Polemik ist die nach wie vor gültige »Charta der Vertriebenen« vom August 1950 - ein Dokument, das mit seinem »Verzicht auf Rache und Vergeltung« genau jene Einstimmung in die fortwirkende Selbstreflexion der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft widerspiegelt, die geschichtsklitternd die Frage nach der in NS-Theorie (Volkstumskampf) und NS-Praxis (Vernichtungsfeldzüge) liegenden Ursache und der ihr folgenden Wirkung ausblendet sowie Täter- und Opfermentalität intrigant miteinander vermischt. Brumliks sezierende Analyse der in jener Charta geronnenen »verquasten Abendlandideologie entnazifizierter Oberstudienräte« ist entlarvend. Auch seine Kritik an der im Kalten Krieg zweckbestimmt zurechtgeschneiderten Definition der UdSSR, Polens und der Tschechoslowakei als »Täterstaaten« - unter berechnender Ausklammerung der (vom Autor anhand schon lange zugänglicher Quellen nüchtern nachgewiesenen) Verantwortung der USA und speziell der Briten für die Konzeption der massenhaften Vertreibung Deutscher aus alten Siedlungsgebieten. Brumlik übertreibt m.E. allerdings etwas, wenn er unterstellt, der »Bund der Vertriebenen« habe die Bonner Regierung durch sein innenpolitisches Gewicht faktisch in Geiselhaft genommen. Mit völkerrechtlich irrelevantem, blasphemisch als von Gott gegeben postuliertem »Recht auf Heimat« habe er BRD-Außenpolitik unheilvoll gelenkt. Aber was ist mit Brandt und dessen Ostverträgen? Betrug der Anteil der Umsiedler 1950 in der BRD 16,5 Prozent, so in der DDR 24 Prozent. Deren Integration in den Sozialkörper der neuen Heimat innerhalb eines Jahrzehnts ist für beide deutsche Staaten eine beachtliche Leistung gewesen. Dass dieser Prozess von der Seite der Alteingesessenen häufig nicht gerade verständnisvoll begleitet wurde, thematisiert eine zeitgleich erschienene Publikation. Ulrich Völklein, Historiker und Journalist, hat die Flucht-, Vertreibungs- und Eingliederungserlebnisse von 14 von ihm befragten Zeitzeugen gebündelt. Im Umschlagtext präsentiert sich sein Buch als Schilderung der schwierigen Integration der unfreiwillig Zugewanderten in ihr neues Milieu.Das äußerst knappe Vorwort benennt richtig die Ursachen für Vertreibung und damit verbundene Untaten. Aber in der Folge steht die Aneinanderreihung von Schrecken im Vordergrund, ohne z.B. die Motive der »Russen« und »Kommunisten« zu beleuchten. Dass unter den 14 Stimmen auch einer ist, der - als einziger (!) - auf seine Vergangenheit als Hitler-Junge (er wird nicht der einzige gewesen sein) eingeht und der dann in der DDR eine erfolgreiche Laufbahn als Pädagoge einschlug sowie SED-Mitglied wurde, mag der Autor als besonders integrativ ansehen; aber man merkt die Absicht und ist verstimmt. Völkleins Untertitel »Das Schicksal derdeutschen Vertriebenen« (Hervorhebung K.W.) impliziert ohnehin eine unwissenschaftliche Generalisierung - die auch dem »Bund der Vertriebenen« eigen ist. Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen, Aufbau-Verlag, Berlin 2005. 300S., geb., 18,90 EUR. Ulrich Völklein: Mitleid war von niemand zu erwarten. Das Schicksal der deutschen Vertriebenen. Droemer Verlag, München 2005. 368S., geb., 19,90 EUR.
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