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Vorleistung ohne Gegenwert

Arbeitslosigkeit Innergewerkschaftlicher Streit um Einbeziehung der Lohnpolitik in das Bündnis für Arbeit Von Gabriele Oertel

  • Lesedauer: 4 Min.

Heute werden die neuesten Arbeitslosenzahlen veröffentlicht. Monat für Monat gerät Rot-Grün mehr unter Zugzwang. Nicht nur, weil der Kanzler sich am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen will. Auch, weil über ein Bündnis für Arbeit nur geredet wird. Für die Juni-Runde ist Zoff programmiert.

Lange Zeit war es so klar wie Kloßbrühe, daß bei den Bündnisgesprächen im Bonner Kanzleramt die Lohnpolitik zunächst kein Thema ist. So oft auch die Arbeitgeber öffentlich davon träumten - vor dem letzten Treffen Ende Februar hatten nicht nur Gewerkschaften, sondern auch der Kanzler höchstselbst Tariffragen weit von der Tagesordnung gewiesen. Doch die Zeiten ändern sich.

Noch bevor die Regierungspolitiker einen erneuten Umfaller zelebrieren können, tun's Gewerkschaftsvertreter. Herbert Mai von der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV) fing vorsichtig an und sprach von der Signalwirkung der vom Bündnis gesetzten Rahmenbedingungen auf künftige Tarifverhandlungen. Hubertus Schmoldt von der IG Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) pflichtete sofort bei, daß er durchaus auch bündnismäßig über Lohnpolitik zu reden bereit wäre. Der Vorsitzende der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), Roland Issen, kann sich seit gestern schwerlich vorstellen, eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung

der Arbeitslosigkeit ohne Einbeziehung der Tarifpolitik zu entwickeln. Nur die IG Metall verweigert sich - Kunststück, ihr Vorsitzender Klaus Zwickel hatte im Februar am lautesten gegen eine Einbeziehung tariflicher Fragen gewettert.

Damals freilich waren die diesjährigen Tarifrunden noch nicht unter Dach und Fach. Inzwischen ist der Lohnzuwachs 1999 gerettet - wenn auch nicht ganz so, wie die Gewerkschaften sich das eigentlich gedacht hatten, und wenn auch lediglich zugunsten der (Noch-)Arbeitenden. Dennoch die rechte Zeit, den kleinen Finger zu reichen? Daß Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sofort die ganze Hand nehmen würde, stand außer Frage. Und Träumer konnten nur hoffen, daß er im Gegenzug irgendwelche Arbeitsplatzzusagen macht. Mai, Schmoldt und Issen hätten aus Erfahrung wissen müssen, wie Arbeitgeber mit Vorleistungen der Gewerkschaften umzugehen pflegen: Sie verlesen neue Forderungskataloge. Hundt blieb sich völlig treu und nannte die drei vorrangigen Ziele seiner Gilde: Unternehmenssteuerreform, Strukturreform bei Renten- und Krankenversicherung, moderne Lohn- und Tarifpolitik.

Die ersten beiden Punkte hat Bonn in Arbeit. Bei letzterem können sich die Arbeitgeber dank gewerkschaftlicher Bereitschaft ein gutes Stück vorangekommen wissen. Es ist gewiß nur eine Frage der Zeit, wann der Kanzler seinen Part nach Schillerschem Motto spielt: Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte. Gegen Einigkeit ist nichts zu sagen - wenn es um die Beseitigung eines gesellschaftlichen Mißstandes geht. Auch gegen Flexibilität im Denken nicht - wenn

sie auf allen Seiten versucht wird. Doch das steht nicht zu fürchten.

Daß für immer und ewig die Tarifpolitik ausgeklammert bleibt, hat wohl auch in Gewerkschafterkreisen nie jemand ernsthaft erwogen. Aber zu all jenen Faktoren, mit deren Hilfe man die Massenarbeitslosigkeit wirksam bekämpfen kann, gehört nicht zuvorderst die Aufweichung der in der Bundesrepublik gesetzlich verbürgten Tarifautonomie. Da gibt es Reserven, die sehr schnell arbeitsplatzwirksam werden könnten: die Überstunden beispielsweise, mit deren Abbau auf Anhieb Hunderttausende Arbeitsplätze zu schaffen wären. Oder auch Arbeitszeitverkürzung. Doch derlei gilt in den Unternehmerverbänden zumeist als Tabu. Löhne und Gehälter indes nicht.

Sich voreilig moderat zu geben, macht nur Sinn mit entsprechenden Ansprüchen. Die von ÖTV, DAG und IG BCE erhofften konkreten Zusagen zur Sicherung bzw. Ausweitung von Arbeitsplätzen hat Arbeitgeberpräsident Hundt postwendend abgeschmettert. Das Bitte-Bitte der Regierung in Sachen Lehrstellen überhört seine Klientel seit Jahren beharrlich. Die Zahl der Überstunden steigt. Über Entwicklung oder gar Verwendung der Gewinne wird der Mantel des Schweigens gebreitet. Dafür wird demnächst im Bündnis über Tarife geredet. Der Zoff ist programmiert. Novum: Er findet nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Teilnehmerlager statt.

Was die Frage aufwirft, ob es bei den Runden im Kanzleramt überhaupt um ein wirkliches Bündnis für Arbeit geht - oder um kollektives Aussitzen eines gesellschaftlichen Mißstandes, bei dem allein sprachlicher Aktionismus für scheinbare Belebung sorgen soll. Und im wirklichen Leben läuft alles wie gehabt: Volkswirte sehen die Arbeitsmarktentwicklung skeptisch. Arbeitslose haben ihre Hoffnung auf Rot-Grün längst wieder ad acta gelegt. Die Regierenden finden sich mit der Massenarbeitslosigkeit ab. Und die Arbeitgeber verfolgen ihr neoliberales Konzept. Nicht nachvollziehbar, warum sie nach der Wahl skeptisch waren. So gedeckt durch eine Geisterdebatte, konnten sie nicht mal bei Helmut Kohl agieren.

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