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Wem gehört der Baum der Wunder?

Bauern und nichtstaatliche Gruppen im Widerstand gegen die Biopiraterie der Multis Indien Von Jochen Reinert, Delhi

  • Lesedauer: 5 Min.

In Indien macht ein neues Wort die Runde: »Biopiraterie«, die freibeuterische Aneignung biologischer und genetischer Ressourcen. Nicht unerwartet war dies auch im Streit um die unlängst beschlossene Änderung des indischen Patentgesetzes zu hören.

Der Neem-Baum: Objekt der Begierde vieler internationaler Konzerne ND-Foto: Jochen Reinert

Die Ergänzung des 1970 unter Indira Gandhi geschaffenen Patentgesetzes besagt im wesentlichen, daß internationale Pharmazie- und agrochemische Konzerne nun auch in Indien »exklusive Vermarktungsrechte« erhalten. In der Praxis heißt das: Sie können selbst bei einer nur geringfügigen Änderung des Verarbeitungsprozesses Patente etwa auf Tinkturen aus der traditionellen Ayurveda-Medizin erwerben und das so hergestellte Heilmittel auch in Indien vertreiben. Und dies zu einem weit höheren Preis als die dort üblichen.

Die von der rechten Indischen Volkspartei (BJP) geführte Regierungskoalition hat dies im Parlament unter anderem damit gerechtfertigt, daß sich Indien als Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) deren Spielregeln anpassen' müsse. Dazu gehöre auch, die indischen Gesetze mit dem im WTO-Rahmen abgeschlossenen Abkommen über geistiges Eigentum (TRIPS) in Einklang zu bringen. Tatsächlich hat die WTO Indien massiv zu dieser »Reform« des Patentgesetzes gedrängt. Und die USA, die sich auch als oberster Hüter der transnationalen Konzerne betrachten, haben Indien entsprechende »Konsultationen« aufgezwungen.

Schließlich wurde Indien dazu verdonnert, bis zum 19. April jene konzernfreundlichen Gesetzesänderungen vorzunehmen - was nun geschah.

Die Opposition nahm dazu keine einheitliche Haltung ein. Die Kongreßpartei, die 1994 gegen erheblichen Widerstand im Lande Indiens Beitritt zur WTO durchsetzte, unterstützte die Regierung. Die linke Opposition - Kommunisten, Janata Dal und Samajwadi Party - lehnte die Ände-

rungen strikt ab und verließ aus Protest bei der Schlußabstimmung im Parlament den Saal. Diese Parteien sehen sowohl die indischen Bauern als auch die Konsumenten der Willkür der Multis ausgesetzt. Sie sprechen von einer »Rekolonialisierung Indiens«. Außerdem, so wurde geltend gemacht, gingen die Änderungen über die WTO-Auflagen hinaus. So würden Ausnahmen zum Schutz der Gesundheitsversorgung und der Ernährung der Bevölkerung nicht in Anspruch genommen. Mehrfach wurde in der Debatte der Verdacht laut, die Regierung habe die Gesetzesnovelle eilends durchgeboxt, um ein »investitionsfreundliches Klima« für die Transnationalen zu schaffen. Ex-Ernährungsminister Raghuvansh Prasad Singh von der Janata Dal klagte die Regierung sogar an, sie habe »einen geheimen Deal mit den Multinationalen« geschlossen.

Nicht nur die linke Opposition, sondern auch Juristen, Gelehrte und Sprecher von Nichtregierungsorganisationen (NRO), die seit Jahren gegen die »Biopiraterie« ausländischer Konzerne ankämpfen, mußten mit dieser »Reform« eine Niederlage hinnehmen. Aber sie wollen dies nicht auf sich beruhen lassen. Mehrere NRO-Vertreter, Wissenschaftler und Bau: erngiruppen haben angekündigt, sie würden vor das Oberste Gericht in Delhi gehen. Unmittelbar nach dem Parlamentsbeschluß protestierten einige hundert Aktivisten zum Beispiel am Delhier Denkmal für Mahatma Gandhis berühmten Salzmarsch gegen die konzernfreundlichen Regelungen.

Unterdessen haben nicht weniger als 1500 nichtstaatliche Organisationen zum zivilen Ungehorsam gegen die Gesetzesänderungen aufgerufen, die ihrer Ansicht nach »Lebensunterhalt, Artenvielfalt und Gesundheits- und Nahrungssicherung« bedrohen. NRO wie die von der in Heidelberg habilitierten Biologin Dr. Suman Sahai geleitete Gene Campaigne leiteten soeben eine landesweite Kampagne zur Aufklärung der Bevölkerung über die Folgen der WTO-Politik gegenüber Indien ein. Die 1992 gegründete Organisation ist inzwischen in 16 der 25 indischen Unionsstaaten tätig.

Als markantes Beispiel wird die internationale Vermarktung der vielen heilenden und aseptischen Eigenschaften des indischen Neem-Baumes angeführt. Den Hindus gilt er als »Heiler aller Krankheiten«, den Moslems als »gesegneter Baum«. Seine Zweige werden als Zahnbürste und -pasta verwendet. Aus Blättern, Blüten und Rinde gewinnt man zahlreiche Heil-

mittel. Das termitenresistente Holz wird zum Hausbau verwendet. Bereits in den 60er und 70er Jahren isolierten indische Forschungsinstitute solche Eigenschaften, gewannen zum Beispiel aus den Samenkernen umweltverträgliche Insektizide - aber sie haben die Ergebnisse ihrer Forschungen weder patentieren lassen noch eine Produktnutzung betrieben. Das

haben westliche Pharmafirmen und agrochemische Konzerne, darunter die deutsche Hoechst AG, aufmerksam verfolgt und sich zu Nutze gemacht. Zahlreiche Patente wurden auf der Basis von Eigenschaften des Neem-Baumes angemeldet. Bereits 1994 wurden allein in den USA Pestizide, die auf Neem-Qualitäten beruhen, im Wert von über 500 Millionen Dollar vermarktet.

Gegen diese Aneignung von biologischen Ressourcen Indiens laufen gegenwärtig verschiedene Gerichtsverfahren in den USA, angestrengt sowohl von der Delhier Regierung als auch von NRO. Die Argumentation von indischer Seite: Über Jahrhunderte allgemein genutzte Naturreichtümer, die oft von Bauern oder Angehörigen von Urvölkern entdeckt und kultiviert wurden, dürften nicht von einzelnen Konzernen oder Interessengruppen okkupiert werden.

Diese und jegliche andere Formen der »Patentierung von Lebenformen« hat Dr Soman Sahai in einem ND-Gespräch strikt abgelehnt. Ihre Begründung: »Weil ich als Inderin und Wissenschaftlerin sehe, daß solche Entwicklungen schlimme Konsequenzen haben für ein Land wie Indien oder jedes andere Land, das in hohem Grade von der Landwirtschaft abhängig ist - und damit von der Nutzung solcher biologischen Ressourcen, die nun unter das Patentierungsregime gebracht werden. Das ist weder eine gute Entwicklung für die Forschung und noch weniger für die Lebensinhalte von mehreren Millionen Menschen in den Entwicklungsländerrf.Was soll aus den Farmern werden, wenn die großen Multis später auch den Saatgutmarkt völlig unter Kontrolle haben?«

Die Auseinandersetzung über die künftige Nutzung der biologischen und genetischen Ressourcen wird in den nächsten Monaten zweifellos weiter zunehmen sowohl in Indien als auch weltweit. Im November beginnt mit der nächsten Ministerkonferenz der WTO die sogenannte Milleniumsrunde mit neuen Vorstößen der USA und anderer Industrieländer zur Übertragung ihrer Vorstellungen auf die Dritte Welt. Im Jahr 2000 soll das TRIPS-Abkommen überprüft werden. In Indien selbst steht die grundsätzliche Umstellung des gesamten Patentrechts nach WTO-Normen bevor Die nächste spektakuläre Aktion ist bereits für Anfang Juni zum G8-Gipfel in Köln angekündigt: Dort werden unter anderem 400 indische Bauern gegen die Aneignung ihrer Ressourcen durch die Multis protestieren.

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