Retter aus dem Fernen Osten

Halle/Saale soll chinesische Sonderwirtschaftszone werden

Halle-Neustadt, im September 2005. Im Foyer des luftigen Bahnhofsgebäudes ist ein farbenfrohes Transparent aufgespannt. In seinem Zentrum prangt ein imposantes Autobahnkreuz. In den durch den Schnellstraßenverlauf gebildeten Sektoren sind Fabriken, Wohngebiete und ein Sportplatz - teils noch im Bau, teils schon in Betrieb - abgebildet. Vor dieser Szenerie: fröhliche Menschen offensichtlich chinesischer Herkunft. Über diesem Panorama steht »Blühende Landschaften«, darüber chinesische Schriftzeichen, die wohl den gleichen Gedanken ausdrücken wollen. Hinter dem Transparent herrscht emsiges Treiben. Unter dem Transparent nehmen zwei Abgesandte der Firma Mainland Developments aus Shenzen Platz. Vor einem mit Sozialwissenschaftlern, Stadtplanern, Architekten und Vertretern vom Regionalmarketing und der Handelskammer besetzten Podium sowie interessierten Bewohnern der umliegenden Plattenbausiedlungen stellen sie ihre Pläne zur Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone der Volksrepublik China im Raum Halle/Saale vor. Mainland Developments hat in China mehrere dieser Keimzellen des aggressiven Staatskapitalismus entworfen und schätzt sich glücklich, dieses Erfolgsmodell auch auf das »sklerotische alte Europa« übertragen zu dürfen. Das staunende Publikum erfährt, dass bereits ein Staatsvertrag existiert, nach dem ein 8450 Quadratkilometer großes Gebiet chinesischem Recht unterworfen werden soll. Es reicht von Magdeburg bis Weißenfels und von Bad Harzburg bis Wittenberg. Juri Henning, nach eigenen Angaben kasachischer Herkunft, mit Deutschlanderfahrung versehen und seit einigen Jahren im China-Geschäft aktiv, erläutert im Auftrag seiner Chefin, Frau Deng Xueyuan, dass Mainland Developments bis 2010 mindestens 250 000, vielleicht sogar 600 000 Arbeitsplätze schaffen will. Vornehmlich in chemische und Textilindustrie sowie den Automobilbau möchte man investieren. Später werde man auf Dienstleistung und Erholung umsteuern. Der Har(t)z werde Nationalpark. In den Städten solle die bewährte Plattenbautechnologie zum Einsatz kommen, um ausreichend Wohnraum zu schaffen. Neben chinesischen Kontraktarbeitern werde es auch Arbeitsplätze für Deutsche geben. »Ich habe mich informiert. Bei Ihnen existiert ja schon jetzt das 1-Euro-Lohn-Niveau. Wir werden daraus Cent-Beträge machen«, verkündet Henning selbstbewusst. Er preist schließlich noch das bewährte chinesische Sicherheitssystem an: »Wer sich legal in unserem Gebiet aufhält, wird von freundlichem und kompetenten Servicepersonal begleitet.« Der Soziologe Jens Dangschat von der TU Wien sieht denn auch in der Sicherheitsinfrastruktur sowie dem implantierten Rechts- und Normsystem die Achillesferse des Projekts. Thomas Brockmeyer, Vertreter der Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau freut sich hingegen über die ökonomische Alternative vor der Haustür: »Die Leute, die sich über 2-Euro-T-Shirts freuen, werden jetzt mit den Bedingungen konfrontiert, unter denen diese Produkte hergestellt werden.« Sicherlich würden dann »fröhlich ungeklärte Abwässer in die Saale geleitet werden; man hätte erneut einen "Silbersee" in Bitterfeld. Deutlich weniger ambivalent ist die Zustimmung von Klaus Wurpts. Der Immobilienmakler hat für das Regionenmarketing Mitteldeutschland monatelang um den chinesischen Großinvestor geworben und sieht sich jetzt am Ziel. Nur das »Kleingedruckte« müsse noch verhandelt werden, meint er. Aus dem Publikum kommen Einwände, dass so eine Sonderwirtschaftszone ja verfassungsrechtliche Konsequenzen habe und daher schwer durchzusetzen sei. Eine Frau fühlt sich schmerzhaft ans Arbeiterghetto DDR erinnert: »Ich will nicht wieder eingesperrt sein, auch nicht, wenn es um Arbeitsplätze geht.« Ein junger Mann erklärt ihr hingegen, dass der Chance auf Arbeit alles andere untergeordnet werden müsse. Nur durch Arbeit werde das Leben lebenswert. Man sollte allerdings aufpassen, dass nicht plötzlich die Thüringer, Sachsen und Bayern ins Land strömen und den Anhaltinern die Arbeitsplätze vor der Nase wegschnappen. Juri Henning verspricht, dieses Problem wie alle anderen in den Griff zu bekommen, während Frau Deng die ganze Zeit huldvoll lächelnd schweigt. Nach angeregtem Gespräch und voller Hoffnung auf »blühende Landschaften« im Herzen geht man auseinander. Am Ausgang fällt der Blick noch auf einen groß kopierten Artikel des Magazins »Foreign Affairs«. Die chinesische Sonderwirtschaftszone Halle/Saale und ADA, ein bei Detroit gelegenes und von Südafrika geführtes Entwicklungsgebiet, werden da als gelungene Beispiele multinationaler Industrieansiedlung gelobt. Die Ausgabe stammt allerdings vom Juli/August 2010. Die sächsisch-anhaltinische Sonderwirtschaftszone der VR China - so zeigt sich spätestens hier - ist ein Gedankenexperiment. Es wurde vom Grazer Architekturbüro Fiedler-Tornquist in die Welt gesetzt und ist Bestandteil der Ausstellung »Shrinking Cities«, die ab November in Halle und Leipzig zu Gast ist. Die Architekten entwerfen ein nicht unwahrscheinliches Zukunftsszenario (www.exterritories.de). Gerade aus Sachsen-Anhalt vernimmt man immer wieder, dass schon die Ankündigung von wenigen Hundert neuen Arbeitsplätzen in eine Bewerbungsschlacht Tausender Arbeitsloser mündet. Die Abgabe des Gebiets an einen Großinvestor ist da eine fast schon zwingende Konsequenz. Mit dem Instrument einer öffentlichen Anhörung loten Fiedler und Tornquist das Maß der Akzeptanz dieser Vorstellung und die damit verbundenen Ängste und Vorbehalte aus. Den geladenen Experten fiel es nicht schwer, Statements aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive abzugeben. Mit ihrer Kompetenz und der Authentizität ihres Auftritts verliehen sie der Intervention - lediglich der Part der chinesischen Investoren wurde von Schauspielern übernommen - das Gewicht des Realen. Zur schlichten Manövriermasse wurde allerdings jener Teil des Publikums herabgestuft, für den die Anhörung nicht als Spiel aufgelöst wurde. Ihre weitgehend unerfülltes Bedürfnis nach Lohnarbeit ließ diese Personen selbst die Kröte der staatskapitalistischen Kolonie herunterschlucken. Sie gingen mit einer vagen Hoffnung nach Hause. Radio Jerewa...

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