Im Schatten von Nostradamus

Warum Menschen seit jeher (vergeblich) versuchen, in die Zukunft zu schauen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Steht die Menschheit kurz vor ihrem Untergang? Viele glauben das, vor allem in den USA. Denn für sie geht am 21. Dezember 2012 nicht nur der Maya-Kalender zu Ende. Sie halten diesen Tag zugleich für das Datum der Apokalypse.

So etwas mache Menschen Angst, sagt die Astronomin Ann Martin von der Cornell University, die seit längerem eine Website zum Thema Weltuntergang betreibt. »Ich habe E-Mails von Schülern erhalten, die entsetzt darüber sind, schon so früh sterben zu müssen. Und eine Mutter schrieb, sie befürchte, das Aufwachsen ihrer beiden Kinder nicht mehr miterleben zu können.«

Abgesehen davon, dass die Menschheit schon viele prophezeite Weltuntergänge überlebt hat, mutet es beinahe abenteuerlich an, den aus dem 9. Jahrhundert stammenden Maya-Kalender für eine (christlich-)apokalyptische Deutung der Geschichte zu benutzen. Denn die Zeit verlief für die alten Maya nicht linear, sondern zyklisch. Das heißt: Nach dem von ihnen erfundenen Langzeitkalender dauerte ein Zeitalter jeweils 5125 Jahre. Und da der letzte Zyklus dieser Art am 11. (bzw. 13.) August 3114 v.u.Z. begann, geht er am 21. (bzw. 23.) Dezember 2012 zu Ende. Einen Weltuntergangstermin suche man in den Schriften der Maya vergebens, sagt der mexikanische Archäologe Guillermo Bernal und verweist darauf, dass sich dort vielmehr Hinweise auf das Jahr 4772 fänden.

Spätestens am 24. Dezember 2012 dürften auch überzeugte Apokalyptiker erleichtert darüber sein, dass der Weltuntergang wieder einmal ausgefallen ist. Danach allerdings wird so mancher daran gehen, den nächsten Termin zu »berechnen«. Denn dass Menschen, die an das Schicksal glauben, sich von solchen Voraussagungen beeindrucken lassen, zeigt kein Name deutlicher als jener des Michel de Notredame, besser bekannt als Nostradamus.

Man braucht heute nur in einen Esoterik-Buchladen zu gehen, um festzustellen, dass Schriften über den »größten Seher der Geschichte« ganze Regalreihen füllen. Und auch im deutschen Privatfernsehen wird seit kurzem eifrig die Frage erörtert, was von Nostradamus' Prophezeiungen eigentlich zu halten sei. Zumal darin das Jahr 2012 ebenfalls von besonderer Bedeutung ist. Das behaupten zumindest viele Nostradamiker, von denen einige überdies glauben, dass die Erde 2012 von einer gewaltigen Klimakatastrophe heimgesucht werde. Andere meinen, Nostradamus habe für dieses Jahr den dritten Weltkrieg prophezeit, nach dessen Ende die Menschheit endlich den ewigen Frieden finde.

Natürlich steht von alldem bei Nostradamus kein Wort. Dessen Schriften sind vielmehr so vage formuliert, dass jeder sie nach Belieben auslegen kann - und das seit über 450 Jahren. Insgesamt 942 Vierzeiler hat Nostradamus (1503-1566) der Nachwelt hinterlassen und darin nach eigenem Bekunden die wichtigsten historischen Ereignisse bis zum Jahr 3797 verschlüsselt. Schon zu Lebzeiten erlangte er eine gewisse Berühmtheit durch die »Vorhersage«, dass der französische König Heinrich II. bei einem Turnier tödlich am Kopf verletzt werde. Doch so schön diese Geschichte auch klingt, in Wahrheit braucht man schon gehörig viel Fantasie, um aus den betreffenden Versen das historisch überlieferte Geschehen herauszulesen.

An Fantasie freilich mangelt es den Nostradamus-Deutern bis heute nicht. Denn in den meisten Vierzeilern werden weder der Ort des Geschehens noch die jeweils handelnden Personen fassbar benannt. Und da Nostradamus außerdem die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse willkürlich veränderte, ließ er im Grunde nur eine nachträgliche Deutung seiner Verse zu: »Eine lange Reih' von Dingen ist verzeichnet, die man erst dann erkennt, wenn sich der Tag ereignet.«

Nehmen wir als Beispiel den folgenden Vierzeiler: »Der Himmel wird brennen bei 45 Grad. Feuer nähert sich der großen neuen Stadt. Sofort springt eine mächtige Flamme empor, wenn man versucht, die Normannen auf die Probe zu stellen.« Für viele Nostradamiker gibt es keinen Zweifel: Hier sah ihr Meister den Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001 voraus. Andere wiederum deuten die Zeilen als Prophezeiung des Reichstagsbrandes oder des Feuersturms über Dresden.

In der Regel ist schon die Übersetzung der zumeist auf Altfranzösisch verfassten Verse umstritten. Wie etwa die folgende: »Eine mächtige Seuche kommt über die große Hülse. Die Hilfe ist nahe, die Heilmittel sind fern.« So übersetzt, sehen manche Nostradamiker darin einen versteckten Hinweis auf die Immunschwächekrankheit AIDS - mit der Begründung, dass das HI-Virus unter dem Mikroskop einer Hülse oder Schote ähnele.

Damit nicht genug muss Nostradamus auch für relativ banale politische Dinge herhalten. »Um den großen Durst zu löschen«, beginnt ein Vierzeiler, »wird der Große aus Mainz seiner Ämter enthoben. Die von Köln werden sich so laut beklagen, dass der große Hintern in den Rhein gestürzt wird.« Was mag das bedeuten? 1998 schien für viele das Rätsel gelöst: Nostradamus hatte den politischen Sturz von Helmut Kohl vorausgesehen, der es bekanntlich liebte, Probleme auszusitzen (»großer Hintern«).

Mit besonderem Eifer verweisen Nostradamiker darauf, dass in den Versen mehrfach von einem gewissen »Hister« die Rede sei, »der Bestien anführt« und »die Republik erzürnt«. Die Deutung hierfür liege auf der Hand, heißt es: Nostradamus hat den Aufstieg von Hitler vorhergesehen und diesen sogar halbwegs treffend beim Namen genannt. Ein Fehlschluss, »Hister« (bzw. »Ister«) war die damals gebräuchliche lateinische Bezeichnung für die Donau.

Eines muss man Nostradamus im Rückblick lassen: Er war ein aufmerksamer Beobachter historischer Verläufe und hatte eine gute Vorstellung davon, wie Kriege anfangen, Weltreiche untergehen, große Leute Geschichte machen. Das erklärt, warum seine nebulösen Verse im Rückblick häufig wie zutreffende Prognosen erscheinen. Wer allerdings glaubt, dass Nostradamus tatsächlich in die Zukunft schauen konnte, gerät zwangsläufig in Widerspruch zur modernen Wissenschaft. Denn danach verläuft die zeitliche Entwicklung von komplexen Systemen, zu denen auch Gesellschaften zählen, chaotisch. Das heißt: Es gibt immer wieder singuläre Ereignisse, die den Gang der Geschichte unvorhersehbar in die eine oder andere Richtung lenken. Oder anders ausgedrückt: Die Zukunft unserer Welt ist nicht - ja nicht einmal näherungsweise - in der Gegenwart enthalten. Gleichwohl müssen Nostradamiker deshalb nicht verzweifeln. Es wird vermutlich allzeit genügend historische Ereignisse geben, die man im Nachhinein mit etwas Geschick in die Verse hineindeuten kann.

Vielen ist das jedoch nicht genug. Sie wagen sich mit Nostradamus' Hilfe auch an konkrete Prognosen der Zukunft. Sieht man einmal von Zufallstreffern ab, sind die Resultate solcher Versuche enttäuschend. Ein gutes Beispiel hierfür gaben die britischen Nostradamiker V.J. Hewitt und Peter Lorie, die für die Zeit um das Jahr 2000 im Vorhinein folgende Ereignisse prophezeit hatten: Eine vereinigte arabische Armee überfällt Israel und verwüstet es. Prinz Charles übernimmt den englischen Königsthron. Im Fernsehen tritt der erste Außerirdische auf, während eine bemannte Raumsonde zum Mars fliegt. Und auch mit ihrer Voraussage, dass man mittels neuer Therapien den Krebs endgültig besiegen werde, lagen Hewitt und Lorie daneben.

Der Reiz, der von Nostradamus' Prophezeiungen ausgeht, wird durch solche Fehlschläge freilich kaum gemindert. Erst recht nicht in Krisenzeiten, wo viele Menschen gern wissen möchten, was die Zukunft bringt. Außerdem werden falsche Vorhersagen nicht dem »Seher« selbst angelastet, sondern eher der Unfähigkeit seiner Interpreten. Der Kult um Nostradamus dürfte daher weiter blühen, denn auch an Kriegen, Krächen und Katastrophen herrscht derzeit kein Mangel.

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