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Auf den Angstfaktor kann die Rechte nicht zählen

Trotz aller Probleme punktet Hugo Chávez mit der Sozialpolitik

  • Raul Zelik, Medellín
  • Lesedauer: 4 Min.

Kurz vor der Präsidentenwahl in Venezuela haben Staatschef Hugo Chávez und sein wichtigster Herausforderer, Henrique Capriles Radonski, noch einmal ihre Anhänger mobilisiert. Chávez trat am Donnerstag (Ortszeit) in Caracas auf, während Capriles in der Provinz seine letzten Kundgebungen absolvierte.

Trotz gerade erst überstandener Krebserkrankung und der offensichtlichen Bürokratisierungserscheinungen seiner bolivarischen Revolution hat Präsident Hugo Chávez gute Chancen, aus den morgigen Wahlen erneut als Sieger hervorzugehen. In den meisten Umfragen liegt der Staatschef in Führung. Zu eindeutig repräsentiert der Kandidat der Rechten, der ehemalige Bürgermeister Henrique Capriles Radonski, die traditionellen Eliten, die auch nach 13 Jahren Linksregierung über unglaublichen Reichtum verfügen und der eigenen Bevölkerung überwiegend mit Verachtung begegnen.

Capriles, der von brasilianischen Wahlkampfexperten beraten wird, bemüht sich zwar um eine sozialdemokratische Rhetorik und verspricht, an den bestehenden Sozialprogrammen festzuhalten. Trotzdem ist absehbar, welche Veränderungen ein Sieg der Opposition nach sich ziehen würde: Venezuela würde sich wieder stärker den ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA unterordnen. Das hieße auch eine deutlich geringere Beteiligung an den Öleinnahmen zu akzeptieren und zur neoliberalen Privatisierungspolitik zurückzukehren.

Ein wesentliches Problem für die bürgerlichen Parteien ist weiterhin, dass sie - anders als etwa die Rechte 1990 in Nicaragua - nicht auf den Angstfaktor zählen kann. Bei der Abwahl der sandinistischen Revolution 1990 spielte die Furcht, ein neuerlicher Sieg der Linken könnte den Contra-Krieg wieder aufflammen lassen, eine entscheidende Rolle. In Venezuela heute ist es umgekehrt: Ungewiss ist eine Zukunft ohne Chávez. Denn eine Rechtsregierung müsste mit heftigem Widerstand aus der Bevölkerung und Teilen des Staatsapparates rechnen. Vieles spricht dafür, dass ihr die Lage dabei außer Kontrolle geraten könnte.

Doch was macht Chávez - der schon jetzt mehr Wahlen gewonnen hat als fast alle europäischen Politiker (selbst der legendäre Helmut Kohl wurde nur dreimal im Amt bestätigt) - so erfolgreich? Eigentlich gäbe es ausreichend Gründe für eine Abwahl des Präsidenten: Obwohl in der Verfassung vom Aufbau einer Beteiligungs- und Rätedemokratie die Rede ist, erweist sich der Klientel-Staat in Venezuela als quietschlebendig. Die im ganzen Land gegründeten Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales), die eigentlich die lokale Selbstregierung sicherstellen sollten, sind heute in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden, die berüchtigte »Boli-Bourgeoisie«. Anders als viele Linke unterstellen, hat das weniger mit »Verrat« von linken Aufsteigern als mit der staatlichen Struktur selbst zu tun: Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamte und Privatunternehmer immer wieder von Neuem einen unauflösbaren polit-ökonomischen Filz aus.

Auch der Umbau Venezuelas in Richtung einer weniger vom Rohstoffexport abhängigen sozialistischen oder wenigstens gemischten Ökonomie ist kaum vorangekommen. Der chavistische Ökonom Victor Álvarez hat das in einer aktuellen Studie skizziert: Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist seit 1987 von 22,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 14,4 Prozent gefallen. Zwar ist die Wirtschaft im gleichen Zeitraum stark gewachsen, doch davon haben vor allem Handel und Bausektor profitiert, die sich in den Händen der Privatwirtschaft befinden. Dank der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Regierung ist zwar die Armut deutlich zurückgegangen und auf den Straßen sind, anders als in so mancher europäischen Großstadt, kaum noch Menschen zu sehen, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Doch der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist nicht gestiegen. Er liegt mit 37 Prozent auf dem gleichen Niveau wie 1997 (während das Einkommen aus Kapitalbesitz weiterhin bei 42 Prozent liegt). Und auch die Kooperativen schließlich, denen in der demokratisch-sozialistischen Umgestaltung eine Schlüsselrolle zukommen sollte, sind kaum von der Stelle gekommen: Gerade einmal zwei Prozent der ökonomischen Aktivitäten gehen auf das Konto des Genossenschaftssektors.

So bleibt als Errungenschaft der letzten Jahre vor allem die Durchsetzung einer souveränen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Durch den 1999 bis 2003 - gegen den heftigen Widerstand einheimischer Eliten und der USA - durchgesetzten Politikwechsel übt der venezolanische Staat heute wieder die direkte Kontrolle auf die Erdöleinnahmen aus. Dass der staatliche Erdölkonzern PdVSA allein im vergangenen Jahr 40 Milliarden US-Dollar für die so genannten Misiones, also für Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme ausgeben konnte, war nicht nur den hohen Ölpreisen zu verdanken. Noch entscheidender war die politische Bereitschaft der Chávez-Regierung, die Privatisierung öffentlicher Güter rückgängig zu machen und den Reichtum des Landes zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verwenden. In Zeiten neoliberaler Enteignungsideologie wahrlich keine Kleinigkeit.

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