Die vergessene Revolution

SCHLESIEN 1848/49

  • Kurt Wernicke
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn von der Revolution 1848/49 in deutschsprachigen Landen die Rede ist, dann werden seit jeher vor allem die Städte Berlin, Wien und Frankfurt am Main oder die Regionen Sachsen, Pfalz, Baden und allenfalls noch Westfalen genannt. Die marxistische Historiographie hat zu 1848 - mit Recht - noch Köln hinzugefügt. Aber die Erschließung und engagierte Auswertung von über lange Zeit nicht zur Kenntnis genommenen Quellen verweist auf weitere Regionen. Das als »preußische Vendée« charakterisierte Hinterpommern ist durch ein 2009 von der Europäischen Akademie Külz/Kulice abgehaltenes deutsch-polnisches Symposion vom Makel befreit worden, beim »Völkerfrühling« abseits gestanden zu haben.

Für die preußische Provinz Schlesien haben Helmut Bleiber (1928-2007) und Walter Schmidt - beide Schlesier: der eine aus der Grafschaft Glatz, der andere aus Auras unweit Breslau stammend - sich über Jahrzehnte den dortigen liberalen und demokratischen Bewegungen gewidmet, wobei Bleiber sein Augenmerk vornehmlich auf das ländliche Umfeld richtete. Schmidt beschäftigte sich in erster Linie mit der urbanen Opposition gegen das absolutistisch-bürokratische System, das kaum im Besitz-, verbreitet jedoch im Bildungsbürgertum und in den städtisch-gewerblichen Mittelschichten wurzelte. In Krisenzeiten war für die in die Moderne aufbrechenden Kräfte zusätzlich stets auf einen von den sozialen Unterschichten gestellten Gewalthaufen zu zählen. Das Fazit ihrer jahrzehntelangen Studien zu den Ereignissen, Prozessen, Bewegungen und Protagonisten machten die beiden Historiker dann in der zweibändigen Publikation »Schlesien auf dem Weg in die bürgerliche Gesellschaft« (Trafo, 2006) bekannt, die in der vom Germanistischen Institut der Universität Opole edierten Reihe »SILESIA. Schlesien im europäischen Bezugsfeld« als Bd. 6 erschien.

Mit der jetzt vorgelegten Veröffentlichung geht Schmidt nun detaillierter der Formierung und Entwicklung der demokratischen Bewegung in ihrer damals möglichen organisatorischen Form, den Vereinen, nach. Dabei stellt er die einzelnen, immer wesentlich vom Ablauf der politischen Geschehnisse bestimmten Etappen dar und würdigt die frühe Schaffung provinzübergreifender Netzwerke, die durch die Unzahl von Kleinstädten zur baren Notwendigkeit wurden. Eine, von Schmidt konstatierte zweite Welle von Vereinsgründungen wirft die Frage auf, ob deren Auslöser wirklich nur das Echo auf den 1. Provinzialkongress der demokratischen Vereine (16. Juli 1848) war oder nicht eher eine Reaktion auf das Schweidnitzer Massaker (31. Juli 1848) des preußischen Militärs an der Bürgerwehr, einer Errungenschaft der Revolution.

Der Autor analysiert die internen politischen Kontroversen, spürt der angesichts der voranschreitenden Konterrevolution höchst verständlichen politischen Radikalisierung auf dem linken Flügel nach und seziert die quasi unausbleibliche soziale Fraktionierung der zunächst unter dem hoffnungsvollen Banner »Einheit und Freiheit« als euphorische Einheitsfront aufgebrochenen, dennoch divergierenden Kräfte. Der Autor hebt das besondere Verdienst der schlesischen Demokraten hervor, die auf breiter Front auf die Landbevölkerung einwirkten, im dörflichen Milieu nicht nur Filialen begründeten, sondern auch einen provinzialen »Rustikalverein« aus der Taufe hoben - die einzige selbständige regionale demokratische Organisation des deutschen Bauernstandes in der Revolution von 1848/49. Dafür gab es allerdings in Schlesien einen günstigen sozialpolitischen Boden, denn in dieser Provinz verknüpfte sich die auch anderswo als ungelöst betrachtete Agrarfrage aufs Engste mit der flächendeckenden Verbreitung protoindustrieller Gewerberegionen und vermischte so mehrere in der Gesellschaft schwärende soziale Wunden.

Die Ereignisse in der Provinzhauptstadt Breslau nehmen in Schmidts Monografie erheblichen Raum ein. Das kann nicht verwundern, denn der Breslauer Demokratische Verein agierte nicht nur als Vorreiter bei der Gründung der anderen demokratischen Vereine, sondern hier wird angesichts der bereits konstituierten großstädtisch-urbanen Klassenscheidung prototypisch die Differenzierung im linken und demokratischen Lager deutlich. Die von der deutschen Revolutionshistoriographie anderthalb Jahrhunderte lang übersehene Tatsache, dass Breslau neben Berlin und Wien als dritte deutsche Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern bereits von der ersten Welle der Industriellen Revolution erreicht worden war und demgemäß eine wirklich proletarische Unterschicht aufzuweisen hatte, wird von Schmidt anhand der Geschichte des Breslauer Arbeitervereins ins Bewusstsein gerückt. Ebenso abseits vom bisherigen Hauptaugenmerk lag Breslau bezüglich der Reichsverfassungskampagne. Während der dreitägige Maiaufstand 1849 in Dresden mit seinem Barrikadenkampf in der Literatur hinlänglich betrachtet wurde, fand man den zweitägigen Breslauer Maiaufstand mit Barrikadenkampf höchstens in abgelegenen Provinzial-Untersuchungen. Schmidt schildert nun präzise die Breslauer Erhebung am 6./7. Mai 1849.

Der zweite Band präsentiert 125 Biografien von Akteuren in Schlesien 1848/49. Hier stößt man auf Namen von Persönlichkeiten, die sich in der Literatur (Berthold Auerbach) oder Wissenschaft (Hermann Brehmer) einen Namen machten. Endlich liegt nun auch eine Biografie von dem bis dato nur als Porträtmaler gehandelten Philipp Hoyoll (1816-1875) als 1848er vor. Dieser war dem durch das anklagende Genregemälde »Die schlesischen Weber« (1844) berühmt gewordenen Carl Wilhelm Hübner (1814 - 1879) mit seinem Aktivismus versprühenden »Sturm auf das Bäckerhaus am Breslauer Neumarkt« (1847) sehr wohl ebenbürtig.

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