Listiger Aufklärer

Zum Tod von Wolfgang Menge

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.

Von Antonio Gramsci stammt die Erkenntnis, dass die Zustimmung zu den Verhältnissen durch die Individuen nicht allein durch unmittelbaren Zwang der Unterordnung erzeugt wird, sondern die Menschen davon überzeugt sind, dass die Verhältnisse unabänderlich und alternativlos seien. Falsches Bewusstsein, das nicht vom Einzelnen als solches erkannt wird, manifestiert sich als der wirklichkeitsgetreue Abdruck der Welt. Der Transmissionsriemen für solcherart Denken sind die Massenmedien. In ihnen entsteht jene Realität, die den Herrschaftszwang vermittelt - und das daraus resultierende triste Leben mittels Unterhaltung als Ablenkung doch erträglich macht - eine Kulturleistung gerade des Fernsehens, der »Mutter« aller Massenmedien des 20. Jahrhunderts, die wir nicht gering werten sollten.

Als Gramsci 1937 starb, befand sich das Fernsehen noch in seinem Unschuldsstadium als allenthalben naiv bestaunte technische Neuerung. Wolfgang Menge war da gerade einmal 13 Jahre alt. Und doch war er ein unbedingter Widerspiegler der Theorie Antonio Gramscis. Menge hatte das Glück, zu früh geboren zu sein, um das Fernsehen des 21. Jahrhunderts, jene Spaßmaschine, die den Geist malträtiert, indem sie die Folgen von Serien in unchronologischer Reihenfolge in Endlosschleife abspult, noch nicht selbst aktiv mitgestalten zu müssen, und doch auch in einer Zeit aufgewachsen zu sein, in der das Fernsehen eine rasante Entwicklung nahm und ein Genius wie er erahnen konnte, wohin das alles uns (und ihn) noch führen sollte.

Wenn man das in den späten 1960er wissen wollte, musste man in die USA schauen, diese große Experimentierstube der TV-Unterhaltung. Wolfgang Menge, der Journalist und Reporter, der bis dato aus Asien für die »Welt« berichtet hatte, las die Kurzgeschichte »The Prize of Peril« von Robert Sheckley, in der in einer TV-Show ein Kandidat eine Woche lang vor Auftragskillern flüchten muss und dabei gefilmt wird; die Bevölkerung wird in der Show ausdrücklich ermuntert, dem Kandidaten zu helfen oder ihn an seine gedungenen Mörder zu verraten.

Menge schrieb daraus das Drehbuch für »Das Millionenspiel«. Thilo Uhlenhorst heißt der fiktive Quizmaster (Dieter-Thomas Heck), der verschlagene, mitleidlose Anführer der Killer nennt sich Köhler (Dieter Hallervorden). Vielleicht war es Dieter-Thomas Heck geschuldet, der seine Rolle gar nicht zu spielen brauchte, sondern nur das tat, was er damals und später im Fernsehen auch tat - gute Mine zum bösen Spiel machen, mit routinierter Langeweile Unterhaltung zu befehligen -, dass die auf Authentizität getrimmte Show von manchem Zuschauer als Wirklichkeit verstanden wurde. »Das Millionenspiel hatte all das schon, was man 20 Jahre später erst im deutschen Fernsehen in Dauerschleife als Unterhaltung verkauft bekam: eingespielte »Dokus«, Interviews, geheucheltes Mitgefühl für den »Kandidaten«, der für eine Million DM um sein Leben flüchtete. Was heute als »scripted reality«, als fiktive Reportage, als Dokumentation mit Laiendarstellern, gesendet wird, hatte Menge vor 42 Jahren schon vorausgeahnt: Die Show ist wirklicher als die Realität. Bei der ARD gingen damals Anrufe von Zuschauern ein, die meisten empörten sich über die - für real gehaltene - Menschenjagd, es gab aber auch Zuschauer, die sich für eine der kommenden Folgen des »Millionenspiels« bewerben wollten - sowohl für die Rolle des Gejagten wie auch für die Rolle der Auftragsmörder.

Der Auschwitz-Prozess, bei dem in Frankfurt (Main) nachgeordnete NS-Täter verurteilt wurden, war da erst wenige Jahre vorbei, das Erschrecken zumindest eines Teils der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit über die Verrohung des sich auf Befehlsgewalt berufenden Individuums noch frisch. War es möglich, dass Menschen Böses tun, nur weil man es ihnen befiehlt oder sie sich im Einklang mit der Autorität wähnen? Es war, es ist! Neun Jahre vorher, 1961, hatte der US-Psychologe Stanley Milgram in einem nach ihm benannten Experiment gezeigt, dass die Bereitschaft ganz durchschnittlicher, psychisch nicht auffälliger Personen steigt, entgegen ihrem Gewissen Anweisungen Folge zu leisten und sogar Wehrlosen Schmerzen zuzufügen, wenn diese Anweisungen von anerkannten Autoritäten ausgesprochen werden; die höchste Gehorsamsstufe erreichten die Wissenschaftler, wenn sie in weißen Kitteln den Probanden befahlen, den (glücklicherweise nur fiktiven) Opfern tödliche Stromschläge zu verabreichen. Was im »Milgram«-Experiment die Weißkittel waren, war bei Menges »Millionenspiel« Dieter-Thomas Heck.

Wolfgang Menge, der Visionär, dachte auch nach dem »Millionenspiel« das Fernsehen in all seinen Facetten (schlechten wie guten) zum konsequenten Ende hin. 1973 kam »Ein Herz und eine Seele«, mit ihm Alfred Tetzlaff (Heinz Schubert), dieser Untertanengeist der Bundesrepublik, der schon allein deshalb durch jede Masche der Entnazifizierung fallen musste, weil er sein Ressentiment geschickt als Larmoyanz tarnen konnte. Und weil in dieser Zeit Fernsehen sich noch als bildungsbürgerliche Instanz ausgab, die informieren, belehren will, war das Ressentiment noch Aufklärung, Kritik an den Verhältnissen, listig im Altherrenwitz versteckt.

Mit wem hatte man mehr Mitleid: Mit Tetzlaffs Frau Else (Elisabeth Wiedemann), die »dusselige Kuh«, seiner Tochter (Hildegard Krekel), seinem Schwiegersohn (Diether Krebs, der »Sozi« aus »der Zone«), die unter den Launen des Ruhrpottnapoleons leiden mussten, oder mit Alfred Tetzlaff, dem die Zeit am beschränkten Horizont vorbeizog und dessen Kleinbürgerwut Aufschrei dagegen war, den Anschluss an die neue Zeit verpasst zu haben?

Wolfgang Menge mischte sich ein und er mischte fürs Fernsehen die Komödie mit dem Drama, das überspringend Heitere mit der Tragödie. Stets war es die Gesellschaft selbst, die die Stoffe dafür hergab. In den 1950ern und 1960ern schrieb er Drehbücher zu Filmen wie »Strafbataillon 999« oder »Polizeirevier Davidswache«, später für den »Tatort«-Vorläufer »Stahlnetz«. 1973, lange bevor es eine Umweltbewegung überhaupt gab, schrieb er das Drehbuch für Wolfgang Petersens fiktive Reportage »Smog«.

Nach der Zeitenwende 1989/90 ließ er in »Motzki« 1993 einen Westberliner Frührentner (Jürgen Holtz) über die Neudeutschen östlich der Elbe herziehen. Heute würde das von dem ausstrahlenden Sender wahrscheinlich als »Sitcom« beworben. 2001 wurde Menge wieder ernst: in »Eine tödliche Liebe« zeigte er die Tragödie, die hinter der Tragödie des Todes der Grünen-Gründer Petra Kelly und Gert Bastian steht: das Scheitern des Idealismus. Ein Jahr später wurde Menge mit dem Deutschen Fernsehpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Danach wurde es ruhig um ihn. Gestern starb Wolfgang Menge im Alter von 88 Jahren. Er hinterlässt eine Frau und drei Söhne - und die Erkenntnis, dass Fernsehen mehr ist, sein muss, als nur Unterhaltung, als ein Spiel für Millionen.

»Man braucht viel Zeit, um etwas Gutes zu entwickeln. Allein über den Namen Alfred Tetzlaff habe ich wochenlang nachgedacht. Plötzlich war er da.« (über die Hauptfigur in »Ein Herz und eine Seele«)

»Wann immer jemand daran erinnert, dass Hitler Österreicher war!« (auf die Frage, bei welcher Gelegenheit er stolz sei, ein Deutscher zu sein)

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