Späte Schreibwut

Herta Scholze aus Frankfurt an der Oder hat Jahrzehnte gebraucht, um sich einen Lebenswunsch zu erfüllen

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 7 Min.

Was treibt eine Endsiebzigerin, sich - zumeist auf ihrem Balkon - immer wieder in die innere Emigration zu begeben, um wie besessen zu schreiben? Über ihr Leben. Über ihre Stadt Frankfurt an der Oder. Über die Natur. Über ihre Kindheit, ihre Ängste, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen. Bilanz und Ausblick sozusagen. »Es ist meine Art, mir selbst zu helfen«, sagt Herta Scholze lakonisch.

Zuerst im Selbstverlag, dann bei den »Zeitzeugen«, später bei den »Roten Federn« in der deutsch-polnischen Grenzstadt hat Herta Scholze über die Jahre Gedichte, Geschichten für Große und Kleine, ja gar einen Roman in nur sechs Wochen geschrieben. Heute sagt die 77-Jährige, das alles sei Therapie für sie gewesen - habe ihr geholfen, mit schwerer Krankheit, Krisen, Selbstzweifeln fertig zu werden. Frieden mit sich selbst zu finden und Klarheit darüber, was da gewesen ist in den letzten sieben Jahrzehnten zwischen einem mörderischen Krieg, einem hoffnungsvollen Neuanfang, lähmender Stagnation und entnervender Neuorientierung in einem plötzlich ganz anderen Land. Und unruhig schreibend zu ergründen, wie vieles sie richtig und wie vieles sie falsch gemacht hat. So sehr all ihre »Werke« auch Selbstverständigung sind - Herta Scholze will ihren Kindern und Enkeln irgendwie auch etwas hinterlassen, was Zeugnis legt von einem »ganz normalen« Leben in der DDR.

Die Frau aus Frankfurt ist mit diesem Wunsch so außergewöhnlich nicht. Wie Pilze aus dem Boden schossen in den letzten Jahren Alltagsbiografien einstiger Bürger jenes kleinen Landes, das für sie über Jahrzehnte Heimat war und nach der deutschen Einheit 1990 so viel Schelte erfuhr. In Staßfurt sammelt der Tierarzt Rolf Funda Buch für Buch für eine ganze Bibliothek der kleinen Leute. In Frankfurt und anderen Städten haben sich inzwischen Autoren zusammengetan, um ihren Erfahrungsschatz zu Papier zu bringen und nachfolgenden Generationen einen gerechten und sachkundigen Umgang mit der untergegangenen Republik zu ermöglichen, die für sie nicht nur aus Mauer, Stacheldraht, Stasi und SED-Diktatur bestand, sondern in der sie auch gelebt, geliebt, geweint und gelacht haben.

Herta Scholze wurde wahrlich 1935 nicht in die Wiege gelegt, einmal dichtend und erzählend ihre Gefühle und Gedanken zu ordnen. Sie kam als uneheliches Kind in einer Kate auf dem Rittergut Bugewitz - dort, wo Haff, Achterwasser und der Peenestrom sich vermischen - zur Welt. Ihre Mutter, eine sogenannte Hofgängerin, hat immer argwöhnisch auf den Hunger ihrer Tochter nach Bildung, gesellschaftlicher Anerkennung, geistiger Auseinandersetzung geschaut. In der Welt der Tagelöhner war ein solcher Anspruch eher selten und traf noch seltener auf Akzeptanz. Doch 1948 hatte Herta eine Lehrerin, die trotz oder wegen der zwei verlorenen Schuljahre, die das Mädchen in Krieg und Nachkrieg hinnehmen musste, deren Freude am Lernen entdeckte und förderte. Allerdings nicht lange. Als Herta 1950 die Grundschule verließ, konnte die Mutter den Besuch des Gymnasiums nicht nur nicht finanzieren - sie hielt ihn auch nicht für wichtig. »Up de hohe Schaul, dat geit nich«, beschied sie rigoros die Lehrerin, die ihr die Tür eingerannt hatte, damit Herta in Anklam weiterlernen und womöglich sogar das Abitur machen konnte. Mit knapp 15 sollte die Tochter wie seit Generationen üblich endlich für sich selbst einstehen und ihre Zeit mit ordentlicher Arbeit und nicht hinter Büchern hockend verbringen. Also arbeitete das junge Mädchen - enttäuscht zwar, aber doch tapfer und klaglos die mütterliche Entscheidung tragend - für wenig Geld auf der Siedlung der Großeltern.

Von heute betrachtet, waren die Wege übers Land von Lehrlings-Werbern des Fischverarbeitungswerkes in Sassnitz ihre Rettung. Wie stolz war sie, dass sie einen richtigen Beruf erlernen konnte. Hat gebüffelt - und als einzige von der Insel Rügen die Lehrausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen. Das stärkte zwar ihr Selbstbewusstsein - Anerkennung daheim brachte es ihr mitnichten ein. Ob sie eine »Överschlaue« werden wollte, hat der Stiefvater gegrummelt. Und gemahnt, sie solle nur ja ihren »Taufschein« nicht vergessen. Das hat wehgetan, aber Herta nicht abgehalten, auch noch eine Delegierung ans Institut für Berufsschullehrerausbildung in Jüterbog anzunehmen. Die heimischen Kommentare, wohl endgültig größenwahnsinnig geworden zu sein, haben ihr dann schon nicht mehr so viel ausgemacht. Und darüber, dass die Familie ihren Eintritt in die SED mit »Na, wenn uns das nicht mal auf die Füße fällt« kommentierte, hat sie gar ein wenig gefeixt. Herta Scholze war jung und die Welt schien offen.

Sie heiratete, bekam zwei Kinder - und für den Rest ihres Lebens eine schwere Asthmaerkrankung, die ihr jede neue Aufgabe ein gewaltiges Stück schwerer machte als jedem anderen. Trotzdem hat sie über Jahre, nachdem andere Frauen ihr Mut gemacht hatten, dem Hausfrauendasein wieder zu entfliehen, als Heimerzieherin im Lehrlingswohnheim gearbeitet. Gern hätte sie schon damals mehr geschrieben. Hat sich aber immer wieder vor sich selbst versteckt, weil sie immer noch mit den Spuren ihrer Herkunft zu kämpfen hatte, mit dem ererbten mangelnden Selbstvertrauen. Der Drang, etwas zu Papier zu bringen, war ihr manchmal geradezu peinlich. So kam es, dass sie zwar einmal bei einem Zirkel schreibender Arbeiter vorbeischaute - aber so schnell, wie sie gekommen war, nach dem ersten kritischen Kommentar wieder verschwand.

Irgendwann wurde das Mädchen aus der Kate Leiterin des Lehrlingswohnheimes »Olga Benario« - und in dieser Zeit muss mit ihrem Selbstbewusstsein etwas passiert sein. Bei einem Wettbewerb zum 20. Jahrestag der DDR, der eigentlich nur für die Lehrlinge der Betriebsberufsschule »Olga Benario« in Frankfurt an der Oder vorgesehen war, trug sie ein selbstverfasstes Gedicht vor - und alle rissen vor Staunen die Augen auf. Der Bann war gebrochen. Zum ersten Mal schämte sie sich nicht für ihre seltsame und bislang geheim gehaltene Neigung, zu reimen und zu dichten. Und endlich auch nicht mehr dafür, dass ihr Bücher von Dostojewski, Fontane, Bredel oder Gorki so wichtig sind, dass sie sie geradezu zum Leben braucht.

Die Kinder wurden groß, Mutter Herta war inzwischen Invalidenrentnerin und kämpfte mit ihrer Gesundheit. Ab 1990 kümmerte sie sich um ihr erstes Enkelkind - diese Aufgabe befreite sie aus der Umklammerung des Asthmas, ließ ihr aber zunächst keine Muße, ihrer Sehnsucht nach dem Schreiben nachzugeben. Lange nach dem Verschwinden der DDR und einer schweren Krebserkrankung vor zehn Jahren wurde das anders: 2002 begann sie als glückliche Oma wirklich zu schreiben.

Inzwischen liegen nicht nur sechs Teile ihrer »Jahresringe eines Lebens« vor, sondern auch Sammlungen von Gedichten, Erzählungen und Kinderbüchern, ein Miniaturbuch »Almanach der Emotionen« und 50 Geschichten »Mein plattdeutsches Lachen«. Texte, die nicht mehr im Verborgenen existierten, sondern von der gefühlvollen, kleinen, rundlichen Frau auch bei der Volkssolidarität, vor Bekannten, Mitpatienten und Genossen ohne Scheu vorgetragen wurden. Vielleicht liegt das auch daran, dass der sie behandelnde Arzt, dem sie alle Gedichte und Geschichten zum Lesen gegeben hatte, insbesondere als sie über den Krebs schrieb, urteilte: »So etwas darf nicht in der Schublade verschwinden.« Und schließlich dafür sorgte, dass das Büchlein gedruckt oder gesponsert wurde.

Manchmal genügt ein einziges Lob, um bislang verborgene Kräfte zu entfesseln. Herta Scholze überwand schreibend nicht nur den Krebs, sondern auch ihre Hemmungen. Und fand bei den »Roten Federn«, die unter dem Dach der Linkspartei in Frankfurt an der Oder inzwischen schon 16 Minibücher mit Lebenserinnerungen herausgegeben haben, nicht nur Rückenwind für ihre Schreibwut, sondern auch einen Ort, in dem sie manch andere Wut artikulieren kann. Hier redet sie mit anderen über die Sorgen, die sie sich um die Zukunft der Kinder macht, über die wenig sonnigen Perspektiven der Heimatstadt nach immer neuen Firmenpleiten, über Auseinandersetzungen in der Linksfraktion im brandenburgischen Landtag, über die Quer-Beet-Verteufelung von Heimerziehung in der DDR...

Kein Zweifel, der Stoff zum Weiterschreiben wird den »Roten Federn« in der Oderstadt so bald nicht ausgehen. Gerade arbeiten sie am vierten kollektiven Miniaturbuch - einer Sammlung, die dem 25 Jahre als Oberbürgermeister in Frankfurt tätigen Fritz Krause gewidmet werden soll, der vor einigen Wochen verstorben ist. Unter den 47 bislang eingereichten Manuskripten ist natürlich auch eines von Herta Scholze.

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