Der Tag ist ein Schutzmann

Poesiealbum E. Erb

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Vom Rückgrat sagt sie, es »glimme«. Leuchtfaden Charakter. Durchs Rückgrat jagen die Ströme, die das Leben anfachen, es ausmachen - in des Wortes doppelter Bedeutung. Elke Erb ist eine Meisterin in der geheimnisvollen sprachlichen Beschwörung von winzigen Wahrnehmungen; sie gibt den Realitäten des Alltags die Würde eines Rätsels zurück. Heimkehr in die Naivität, wo die Bedeutungen vor den Ahnungen kapitulieren: Das ist die größte Leistung eines Gemüts, das ist die längste, abenteuerlichste Reise eines Bewusstseins - Wissen endlich abperlen lassen von den Herzhäuten; nicht mehr nur immer sagen, was gefordert ist: »Ich stellte die Unstimme still/ und wußte von nichts«. Endlich Freiheit, bitte, von den ermüdenden Wirklichkeiten, denn »der Tag, ein Schutzmann, holt mich auf die Wache«.

Die Gedichte Erbs im »Poesiealbum 301« - komponiert aus Texten von zwölf Bänden - sind eine Expedition in immer kühnere Gefilde sprachlicher Abstraktion. Dieser Dichterin widerfährt aus banalstem Stoff eine spracherfindende Poesie, die nicht verstanden, sondern empfunden werden will wie ein Tonstück.

Engel in zersprungenen Farben. Des Blutbaums Äste. Der Zaun im ergrünten Land. Die Gesellschaft »ein geregeltes Geisterreich« - Elke Erb, Dichterin des Prenzlauer Bergs, schaut wach in »finstere Wirrnis« allüberall; sie verweigert sich der Vergemeindung ins Volk der hurtigen Informationsschlucker und Begriffsfresser; sie besteht auf Abgeschlossenheit ihres Terrains, wenn die Knechte der klaren, eindeutigen Formulierungen anrücken wie Besatzer und sie die Poesie auf sogenanntes Normalsprachmaß überprüfen.

Im Gedicht der 1938 Geborenen herrscht ein tiefes Einverständnis (ein Entspanntsein, wie man es nur am Grund der Schmerzen sein kann) mit den Dingen der Welt - wie sie uns den Mut abringen, als Menschengattung nicht beherrschend aufzutreten, sondern flaggenzeigend gering. In diesen Versen reicht keine Wahrheit für alle, und für jeden Einzelnen ist sie zu viel. »Dies Manna der Verletzungen, sie munden.«

Lebe wohl!, das weiß man nach der Lektüre, ist ein gütiger, aber auch hart fordernder Spruch.

Elke Erb Poesiealbum 301. Hrsg. und ausgewählt von Richard Pietraß. Grafik von Strawalde. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. 32 S., brosch., 4 Euro. Poesiealbum 302: Günter Grass.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal