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Kraft und Klage des Kindlichen

Zum Tode der Schauspielerin Käthe Reichel

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
For ever. Für immer.
For ever. Für immer.

Eine Frau geht ins Wasser. Wie eine Heilige, oder wie eine Irre. Ach, benenn einer den Unterschied. Käthe Reichel als Predigersfrau Josepha in Horst Seemanns Fernsehroman-Ereignis »Levins Mühle« (1980). Eine langsam sich vollendende Studie des Zerbrechens an deutschnationaler Welt. Die Reichel spielt, vor Klarsicht fiebernd, wie ein fühlendes Herz zum Elendsquartier wird und seine Würde schließlich nur bewahren kann, indem es sich fluten lässt von befreienden Wassern des Todes.

Sie entdeckte in einer faschistischen Aufseherin die vorsichtige Geheimdienstlerin der Solidarität (im DEFA-Film »Die Verlobte« von Günter Reisch und Günther Rücker, 1980). Sie offenbarte Antifaschismus als natürlichste Regung (im Fernsehfilm »Muhme Mehle« von Thomas Langhoff, 1980). Sie geisterte als sparsam eindringliches Alte durch die Möchtegern-Modernität sozialistischer Neubau-Ideologie (im DEFA-Film »Jadup und Boel« von Rainer Simon, 1988).

Sie konnte in ihrer Kunst von einer geradezu lauernden Sanftmut sein, dann wieder von einer krähend überdehnten Schärfe, von einem wahnsinnsgrenznahen Kreischen; sie war, wenn sie hochfuhr, die leidenschaftlichste Giftsprüherin des Mensch-begreif-doch-endlich!-Theaters.

Ab 1950 spielte sie in Bertolt Brechts Berliner Ensemble, war bei ihm und Benno Besson eine strahlende Hauptdarstellerin, der sich auf seltsame Weise Unbedarftheit und Kraft verbanden (Gustchen im »Hofmeister«, Gretchen im »Urfaust«, die Jeanne d-Arc, dann die»Heilige Johanna der Schlachthöfe«, Shen Te/Shui Ta in »Der gute Mensch von Sezuan«, Grusche im »Kaukasischen Kreidekreis«). Sie spielte nicht das Wissen, mit dem man Erfahrungen kommentiert; sie spielte, instinktiv klug, jene Blindheit, mit der man Erfahrungen - macht.

Sie hatte als junge Darstellerin wohl große Mühe, dem Theorie-Geheimnis Brechts spielend gerecht zu werden; sie meinte später, als Elevin an Begriffsstutzigkeit geradezu gelitten, sich verflucht zu haben. Aber da war ein unauslöschlicher Keim gelegt vom großen Manne b.b., dessen Geliebte sie war und dem sie in ihren späten Jahren dann »Windbriefe« schrieb (Verlag Faber & Faber).

Sie lebte in unentwegter Brecht-Faszination, also: erfolgreich, unbequem, störrisch. Sie ging ganz auf in dem, was von dessen Diktionen ausging, und sie hat in bewundernswerter, in aufgekratzter, in heiter unwirscher Weise auch außerhalb der Bühne das Programm einer Fortsetzerin betrieben. Schülerin for ever. Sie konnte in ihrem Politik-Poesie-Pathos in schönsten, auch mal verqueren Rumor geraten. Sie verteidigte Biermann gegen die Bonzen der SED, aber sie schickte Feuerzeichen der Verachtung gegen diesen Biermann, als der sich nicht mehr einkriegte vor Antikommunismus. Sie gehörte zu den Rednern des 4. November 1989 und prophezeite bald danach, man werde so was wie die Kohl-Regierung niederschreien, wie man die Mauer waffenlos niedergeschrien habe. Sie war Kommunistin, sie lebte für Wahrheiten der fernen Zukunft.

Aber sie stand, als Moskau kriegerisch gegen Tschetschenien zuschlug, auch sehr klein und sehr heldenhaft und sehr zornesgrell inmitten der Gegenwart: im Mittelpunkt der Aktion »Russische Mütter, versteckt eure Söhne!«, erhielt dafür einen Menschenrechtspreis. Sie war es, die die Frauen des »Komitees der Soldatenmütter Russlands« für den Friedensnobelpreis vorschlug. Und als 2006 der europäische Dichter Peter Handke der deutsch-biederen Dummheit von Düsseldorfs Provinz-Politik zum Opfer fiel und wegen seiner Serbien-Solidarität keinen Heine-Preis bekam, da gehörte die Reichel neben Claus Peymann, Rolf Becker und Eckart Spoo zu den Organisatoren eines »Alternativen Heine-Preises«, dessen Sammel-Erlös »serbischen Enklaven im Kosovo« überreicht wurde. Die Reichel dabei: klageweiblich unüberhörbar, racheweiblich stimmkräftig. Die zarte zähe Person gleichsam ein wohltatsfreudiges Tänzeln: Für Geradlinigkeit kann man nicht schräg genug sein.

Man hat ihr die Brecht-Verfallenheit, diese Verehrungspose oft vorgehalten, hat die Kopisten-Kapriolen als letzten Ausdruck einer emphatisch Verstiegenen belächelt. Aber Verstiegenheit (wenn schon dieser Begriff!), Verstiegenheit offenbart doch, dass man sein persönliches Leiterchen an abenteuerliche Hochgegenden lehnt, sich ins Unwegsame traut. Versteigen kann sich nur, wer steigt. Wie soll denn ein Brecht weiter SEIN, wenn nicht auch in solch anverwandter Geistesart, in solch einer unverwandten Energie, all das vom Meister Errungene, all das bei ihm Erarbeitete als Impuls, als Methode ins krude, kritikreife, bösbeständige Jetzt zu schleusen und zu schleudern?

Wenn alle um sie herum ein Stück spielten, konnte es durchaus sein, dass sie das Stück spielte, wie man es eigentlich spielen müsste: Sie fiel auf, indem sie herausfiel. Aber das war nicht Undiszipliniertheit, das war Ausleben von Freiheit zwischen unumstößlichen Setzungen: sozialem Gestus und politischer Botschaft. Sie war keine landläufige Psychologin, sie versank nicht in einer Gestaltenseele, sie hasste Naturabzüge - ihre Domäne war im direkten Sinne des Begriffs jene Verhaltens-Störung, in der sich die Wahrhaftigkeit eines von Krise befallenen Menschen offenbart. Sie spielte nicht Figuren, nicht »ganze Menschen«, sie montierte, und das mit einer nahezu manieristischen Konsequenz. Sie war fremd und rührend zugleich.

Ab 1961 war die Reichel Mitglied des Deutschen Theaters Berlin. Dort hatte Brechts BE 1949 seinen Gründungsort gehabt - eine starke, charaktervolle Heimatgebergeste des künstlerischen Antipoden Wolfgang Langhoff. Später, Mitte der sechziger Jahre, spielte Langhoff selber am BE, in Brechts »Tage der Commune«, und nahezu heimlich schlich er zu den Proben hinüber zum Schiffbauerdamm - kleiner Verweis auf die Unverträglichkeiten, in deren Klima sich Brechts Theatermodell entwickeln musste. Um so aufsehenerregender, dass Wolfgang Langhoff die Titelrolle seiner »Minna von Barnhelm« ausgerechnet - Käthe Reichel anvertraute! Dieser Lessing wurde eine seiner hellsten, witzigsten, aufklärungsperlendsten Inszenierungen. Und in späteren Arbeiten von Sohn Thomas Langhoff besaß die Reichel - auch dies eine Ehrensache und Erbepflege - ihren prägenden Platz.

Die 1926 geborene Berlinerin, eine Armutsherkünftige, die aus der kaufmännischen Lehre, ohne vorherige Kunst-Schule, in die Schauspielerei zog - sie war auf der Bühne eine Sendbotin des Plebejischen, des abgründig Närrischen. Das sie gern und berührend bis zur kunstvollst vorgezeigten Kindlichkeit trieb. Es herrschte da oft, nein, weit höherstehend: es königlichte da, in den Nutzkleidern der ewigen Magd, eine verschwiegene oder verschlagene oder vertrackte Bitternis - die hatte sich durch alle Jahrhunderte gekämpft, und auch die Reichel übernahm quasi ein Erbe; es war da im Spiel eine Kraft des Abgekämpften, die auf geschichtliche Gerechtigkeit sann. Eine Bitternis, die warf nicht Galle aus, die floss wie ein Quell. Erfrisch dich, Hexe des Aufstands; und wenn schon Kräuterweib, dann Weib der Unkräuter - die keine Pflege brauchen, um zu blühen und eine Kulturlandschaft frech zu bewuchern.

Gelebt hat Käthe Reichel im märkischen Buckow. Wo Brecht gelebt hat. Auch Ekkehard Schall, der große BE-Spieler. Buckow, Ort der berühmten Klagegedichte Brechts. Buckower Elegien. Man könnte meinen, eine weitere erklänge überm See: Käthe Reichel ist nun, in ruhmreicher Gegend, gestorben, 86 Jahre alt.

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