Eine Frage der Brennweite

Detlev Buck hat Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt« in 3-D verfilmt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn man Detlev Buck in den vergangenen Wochen auf PR-Tour durch die TV-Talkshows sah, fragte man sich irritiert: Was ist dem denn zugestoßen? Er wirkte geradezu zerrüttet. Mit fahrigen Bewegungen und verschwimmender Aussprache redete er über Alexander von Humboldt, über Carl Friedrich Gauß, über Ecuador und die Besonderheit dreidimensionaler Kinobilder (3-D-Technik). Da ahnte man, was ihn so aus der Bahn geworfen hat: ein Film und nicht irgendeiner, sondern die Verfilmung von Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt«.

Das Buch liest sich bereits wie eine Einladung zur Verfilmung. Es wirkt wie ein Drehbuch, Szene folgt auf Szene, Schlaglicht auf Schlaglicht. Doch die Tücke des Unternehmens sollte sich erst noch zeigen: Wie verfilmt man die Biografien zweier großer Reisender des frühen 19. Jahrhunderts, zumal beide sich nur einmal getroffen haben, 1828 auf dem Naturforscherkongress in Berlin? Die Geschichte geht über fiktive Brücken, lässt Spielraum für Mögliches, das vielleicht nie Wirklichkeit wurde.

Dieser Film, das wird Regisseur Detlev Buck sehr schnell klar geworden sein, muss lauter Paradoxe überzeugend ins Bild setzen. Hier findet immer alles zugleich statt. Kehlmanns Kino im Kopf jedoch lässt sich nicht einfach abfilmen. Des Mathematikers Gauß Reise zu neuen Kontinenten findet in seinen »Disquisitiones Arithmeticae« statt, das ist ein Buch, in dem wohl nicht nur Gauß' leicht debil wirkender Gönner, der Herzog von Braunschweig (grandios mit einem selbst für das 19. Jahrhundert überaus maroden Gebiss: Michael Maertens) ratlos blättert. Gauß, aus einfachsten Verhältnissen kommend, durchlebt alle Abenteuer seines Lebens nur im Kopf, seinen Platz am Schreibtisch verlässt er nur unter Androhung von Gewalt.

Gauß hatte 1816 tatsächlich einen Vermessungsauftrag erhalten: fünfundzwanzig Jahre brauchte er, das nicht einmal große Königreich Hannover zu vermessen. Der Adlige Alexander von Humboldt, von früh an in einen - nicht einmal vor dem Einsatz von Rattengift halt machenden - Konkurrenzkampf mit seinem Bruder Wilhelm verstrickt, wollte immer möglichst weit weg von Preußen und der Enge der Provinz, am besten bis ans Ende der Welt. Bevor die neue Welt vermessen werden kann, muss sie erst einmal entdeckt werden! Beide gelangen dabei an Grenzen aller Art, beide verletzten sie Tabus ihrer Zeit. Kehlmanns Buch handelt nicht zuletzt auch von der Vermessenheit jeder unbedingten Aufklärung - und der wohl auf immer verlorenen Freude am Exotischen, das sich zum ersten Mal zeigt.

Ein harter Brocken für Detlev Buck, der für dieses Großprojekt in 3-D mit seinem zuletzt produzierten Film, der massentauglichen Komödie »RubbeldieKatz« gar nicht so viel Geld verdienen konnte, wie er für diesen hier ausgeben musste. Zudem, Kehlmann Buchvorlage ist brillant. Auf engstem Raum werden kleine Begebenheiten so erzählt, dass sich in ihnen ein Jahrhundertproblem spiegelt: Was alles können wir Neues entdecken, ohne dabei aufzuhören, eine Vergangenheit zu haben? Die Distanzen müssen überall ständig neu vermessen werden. Die von gestern zu heute, die von Mensch zu Mensch (Obrigkeit und Untertan), die von alter und neuer Welt (Europa und Amerika), von Gottesgeschöpf und technischer Weltumformungseuphorie - zuletzt immer die von Raum und Zeit. Ein Taumel von Zeiten und Gegenden, von Aufbuch und Absturz. Ein Steilvorlage für 3-D, so sollte man meinen, aber auch eine Reise ins Ungewisse. Das Resultat ist ein ungewöhnliches, es vereinigt Kammerspiel und Panoramabild, ist opulent und karg zugleich: Das darf man meisterlich nennen!

Aber Komödienspezialist Detlev Buck ist auch Regisseur solch konsequent-dokumentarischer Filme wie »Knallhart«, einer Innenansicht von Jugendgewalt in Berlin-Neukölln. Selbst dann, wenn er mit seinen Komödien von unterschiedlicher Qualität vor allem Geld verdient, interessieren ihn Menschen in Alltagssituationen, die sich nach und nach als bodenlos erweisen. Das betrifft auch - und gerade - solche Neulandpioniere wie Humboldt und Gauß.

Eigentlich hätte der Film wie das Buch beginnen müssen, mit der Reise des widerspenstigen Gauß zum Naturforscherkongress nach Berlin. Kehlmann lässt es bereits in diesem Eingangskapitel seines Buches philosophisch funkeln: »Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen ziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.« Bucks Verfilmung (zu der auch Kehlmann mit am Drehbuch schrieb) beginnt nicht mit dieser furiosen Szene, sondern einem Blick in die ungleichen Kindheitsmilieus der beiden Vermessungs-Extremisten.

Es ist ein präziser Blick, der die Möglichkeiten des räumlichen Sehens so rigoros ausschöpft, dass man diesen Film selbst eine Expedition ins Reich der Filmtechnik nennen kann. Wenn Humboldt den Finger belehrend der Kamera entgegenhält (den beiden Kameras, die für 3-D-Aufnahmen notwendig sind), dann meint man als Zuschauer mit dunkler Brille ausgestattet in seinem Kinosessel, dieser Finger würde einem gleich in Gesicht stoßen.

3-D ist ein suggestives Spiel mit Flächen und Körpern. Was lag da näher, als das Raum-Zeit-Thema selbst zum Gegenstand des Films zu machen? Eine Reise, bei der der Weg das Ziel ist. Manchem Puristen unter den Kritikern wird vielleicht nicht gefallen, dass sich Buck geradezu begierig auf Bilder stürzt, die seine Technik zur Bildplastik macht: der geheimnisvolle Dschungel samt Eingeborenen und hässlichem europäischen Kolonialismus, Sklavenmarkt, exotische Tiere und nackte Frauen, die Besteigung des Chimborazo - all das wirkt als Bilderfluss (den eine Erzählstimme begleitet) schon sehr imposant. Manches erinnert dabei fast an die Südsee-Szenen der »Meuterei auf der Bounty«, die leider noch nicht in 3-D gedreht wurde.

Gauß (überzeugend auf der Reise ins Innerlich-verschrobene: Florian David Fitz) und Humboldt (wie ein General ins Unbekannte voranstürmend: Albrecht Abraham Schuch) sind die beiden starken Persönlichkeitszentren, die nach den Regeln eines verborgenen Magnetismus einmal aufeinander stoßen mussten. Zwei solche Exzentriker von Ausmaßen, Egomanen in höherer Mission - das ruft natürlich nach einer ironischen Brechung, und wenn Buck in seiner Regie neben der fehlerfreien Handhabung der 3-D-Technik (nur 31 Drehtage erlaubte das Budget!) etwas außergewöhnlich gut gelingt, dann die Gratwanderung zwischen bitterem Aufklärerernst und jener skurril-komischen Befremdlichkeit, die jedem blindlings im Glauben an die Wichtigkeit seines Tuns Voranstürzenden anhaftet. Ein Spiel mit Nähe und Distanz, Wahrheit und Täuschung.

Was gibt es besseres über einen Film zu sagen, als dass er zugleich zu faszinieren vermag und die Mechanismen einer solchen Faszination selbst zum Thema erhebt?

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