Gewalt und Bildergewalt

MEDIENgedanken: Der Tote vom Berliner Alexanderplatz

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt ein zentrales Tabu einer friedlichen Gesellschaft: das des Zeigens von Bildern exzessiver Gewalt mit erkennbar realen Bezügen. Die Gewaltexzesse in den Filmen Quentin Tarantinos sind ja gerade deshalb ertragbar, weil (der erwachsene!) Zuschauer um ihren fiktionalen Gehalt weiß. »Kill Bill«, das ist Kino auf der Streckbank: das Brutale wird bis zur Grenze des Erträglichen gezeigt. Filme wie »Knallhart« von Detlef Buck, die Jugendgewalt am Ort ihres Geschehens (in diesem Fall im Berliner Stadtteil Neukölln) zum Thema haben, achten dagegen dieses Tabu. Und es ist gut, dass die Medien bei der Berichterstattung über grausame Verbrechen auf das bildhafte Zurschaustellen der schlimmsten Gewalt verzichten - noch verzichten!

»Alex-Mord«: Endlich erste Festnahme!«, vermeldete vor wenigen Tagen das Berliner Boulevard-Blatt »B.Z.« in großen Lettern auf Seite Eins. Die Erleichterung über den Fahndungserfolg bei der Suche nach der Tätergruppe, die vor knapp zwei Wochen einen jungen Mann in Berlin totprügelten, ist aus jeder Zeile der anschließenden Meldung herauszuspüren. Das »endlich« klingt dabei weniger nach Erleichterung denn nach vorweggenommener Verurteilung. Man will nach einer solch schrecklichen Tat, einer ganz offensichtlich grundlosen Gewaltexplosion gegen einen Wehrlosen, dem Opfer Genugtuung verschaffen. In der Nacht zum 14. Oktober hatte eine Gruppe von mehreren jungen Männern auf dem Berliner Alexanderplatz den 20-jährigen Jonny K. niedergeschlagen und so stark mit Tritten gegen den Kopf traktiert, dass er einen Tag später seinen schweren Verletzungen erlag.

Das Interesse der Medien wie der Öffentlichkeit an großflächiger Berichterstattung über Vorfälle wie solche auf dem Berliner Alexanderplatz steht in einem Missverhältnis zur statistisch gemessenen Entwicklung bei solchen Taten. Jugendgewalt, ja selbst die Intensität der Gewalt, ist seit Jahren rückläufig, das mediale Interesse daran aber steigt. Das lässt zwei Möglichkeiten der Erklärung zu. Erstens: Sensationsgier, das aus der Norm Fallende stößt auf umso größeres Interesse desto seltener es ist. Zweitens: Wir sind sensibler geworden gegenüber solcherart Gewaltexzessen. Was vielleicht noch vor 40 Jahren - zynisch formuliert - als »gewöhnlich« zur Kenntnis genommen wurde, empört heute. Wo findet heute Gewalt überhaupt noch im Alltag statt? In den Medien, vor allem in den elektronischen Massenmedien, dem Fernsehen, dem Internet. Die Bilder der Gewalt, es sind medial vermittelte, die in der Regel mit persönlich Erlebtem nicht mehr korrespondieren. Rohe Gewalt ist ins Refugium Medium verbannt worden. Wir schrecken auf, wenn der Nachbar, der als Soldat in Afghanistan war, vom Krieg erzählt. Uns geht es nahe, wenn ein Kind geschlagen, getreten, getötet wird, das in die gleiche Schule ging wie das eigene.

Wie war das früher? War da weniger Gewalt, wie der »Bild«-Stammtisch meint? Früher, also wirklich früher, zur Zeit massenhafter emotionaler Verrohung, so wird im kleinen Dorf in meiner fränkischen Heimat noch heute von den Älteren erzählt, da ging ein Mann, dessen Frau rund ein Dutzend Kinder zur Welt brachte, von denen kaum eine Handvoll den ersten Geburtstag erlebte, nach dem Tod eines jedes dieser Kinder zum Dorfschreiner und bemerkte lakonisch: »Ich brauche wieder einmal einen von deinen kleinen Kasten, mir ist wieder eines abhanden gekommen.« Wer in Gewalt lebt, gewöhnt sich nicht nur an die Sprache der Gewalt, er liefert sich ihr aus, nimmt das scheinbar Schicksalhafte als unvermeidbar hin.

Was uns an dem Fall vom Berliner Alexanderplatz quält, ist das Gefühl einer Hilflosigkeit und die schmerzhafte Erkenntnis, dass es nicht so enden darf und es doch solche Fälle immer wieder geben wird. Schlimm ist nur, wenn diese Hilflosigkeit in Gedankenlosigkeit umschlägt; und diese steckt in der populistischen Forderung nach mehr Überwachung, mehr Videokameras, mehr Polizei gleichermaßen wie in der Entgegnung auf solche Forderungen mit der reflexhaften Warnung vor dem Überwachungsstaat. Für die Hinterbliebenen von Jonny K. ist der Verweis auf Zahlen, die belegen, dass ihr Sohn, Bruder, Neffe Opfer einer statistischen Ausnahmesituation geworden ist, kein Trost. Ebenso wenig kann für die Öffentlichkeit langfristig das Installieren von Videokameras mehr Sicherheit bieten. Wer derart enthemmt zuschlägt und -tritt lässt sich kaum durch die Anwesenheit von Kameras davon abhalten. Es darf angenommen werden, dass er in lichten Momenten seines Geistes um das Abscheuliche seines Tuns weiß (das ist zumindest zu hoffen). Ein paar Polizisten mehr, die nachts auf Streife gehen, schrecken vielleicht besser ab als die Drohung mit Kamerabildern.

Es gibt andererseits in den Medien ein gesteigertes Interesse an Bildern, die den Menschen entwürdigen. Bilder von Überwachungskameras erfüllen diesen Zweck im gleichen Maße wie die Superzeitlupe im Fernsehen etwa von Fußballspielen. Der popelnde Fußballtrainer Joachim Löw, der sich in den Schritt fassende Kunde am Geldautomaten in der Bankfiliale, der stotternde, überbissige TV-Statist in den Casting-Shows - sie werden mit der abstoßenden Lust des Voyeurs am Abstoßenden im modernen Panoptikum Massenmedium ausgestellt. Es gab dieser Tage in Zeitungen Fotos vom Vater des getöteten Jonny K. zu sehen. In Großaufnahme waren seine tränengeröteten Wangen - ja, zu bestaunen. Gezeigt wird, was gezeigt werden kann. Die Grenze ist die maximale Zahl der Pixel - und eine gewisse Scheu vor dem Tabubruch. Und die gilt sowieso nur noch für die traditionellen Medien. Der Pressekodex greift für die Handy-Filmchen der Amateur Paparazzi nicht.

Der Autor ist Medienredakteur des »nd«.

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