Halt ohne Hände

Die meisten Opfer des Schlafmittels Contergan können mit ihren Renten die Spätfolgen der Behinderung nicht ausgleichen

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 6 Min.
Christine Zapf lebt ohne Arme. Sie ist ein Opfer des Schlafmittels Contergan, das von 1957 bis 1961 weltweit 15 000 Embryos mit Missbildungen im Mutterleib heranwachsen ließ. 2700 Geschädigte leben heute in der Bundesrepublik und beziehen eine Rente von der Contergan-Stiftung. Die meisten sehen die Organisation, die seit genau 40 Jahren besteht, kritisch.

Die kleine Frau schüttelt energisch den Kopf mit den glatten dunklen Haaren, die ihr gerade bis auf die Schultern fallen. Sie gestikuliert mit dem linken Fuß, bewegt ihn dabei wie andere ihre Hände beim Reden. Sie nimmt einen Stift zwischen die Zehen oder blättert in einigen Papieren, nimmt die Teetasse mit dem Fuß und trinkt einen Schluck. Jede dieser Bewegungen erscheint sicher und beiläufig, ihre Leichtigkeit verblüfft. Christine Zapf ist aber keine Artistin, die einfach ein paar witzige Übungen vorturnt. Sie ist eine von etwa 2700 in Deutschland lebenden Conterganbetroffenen.

Geboren wurde Christine Zapf im Mai 1962. Ihre Mutter hatte eine »unruhige Schwangerschaft« und nahm in dieser Zeit das Schlafmittel Contergan. Im November 1961 wurde bekannt, dass das Medikament Föten schädigt, wenn es zu Beginn der Schwangerschaft genutzt wird. Der Hersteller Grünenthal nahm das Produkt am 27. November 1961 vom Markt. Wenige Monate später kam Christine Zapf zur Welt - ohne Arme. Im Vorschulalter besuchte sie einen katholischen Kindergarten, extra eingerichtet für Contergan-Geschädigte. Sie war noch nicht sechs Jahre alt, da sollten ihr Prothesen angepasst werden: ein Metallkonstrukt auf dem Oberkörper, die Stangenarme hydraulisch zu bewegen, eine Gasflasche musste dazu auf dem Rücken getragen werden. Die Mutter half Christine dann lieber, Malen und Schreiben mit den Füßen zu lernen. Die Prothese wanderte in den Keller.

Ihre Mutter setzte später den Besuch einer regulären Grundschule durch. Eine Lehrerin kümmerte sich, die Mitschülerinnen rissen sich darum, Christine zu helfen. Dann der Umzug und drei weitere Schuljahre ohne Unterstützung, dafür schlechte Noten für die Schrift: Sie kam beim Diktat nicht so schnell mit. Schließlich die Realschule für Körperbehinderte, dann die gymnasiale Oberstufe, täglich lange Fahrten mit Schulbus von Meckenheim nach Köln und zurück. In kleinen Klassen, in Leistungskursen Latein und Englisch lernte sie viel und intensiv. Und fing mit anderen Contergan-Opfern an, sich zu wehren. Einige Lehrer organisierten sich eine Vier-Tage-Woche. Dafür hatten die Schüler zehn Unterrichtsstunden am Tag. Am Freitag waren es zwei Stunden, danach vier Stunden Warten auf den Schulbus. Die Jugendlichen konnten nichts ändern, aber sie ließen sich nicht alles gefallen. Genau das werde von Behinderten erwartet, erfährt Christine Zapf: »Du sollst dich kleinmachen und auch noch dafür entschuldigen, dass du Hilfe brauchst.«

Die Wahl der Studienfächer, Arabisch und Indonesisch, war »eine schöne Fehlentscheidung«. Sinnvolle Studienberatung gab es nicht. Das Schreiben des Arabischen von rechts nach links bereitete zusätzliche Mühe. Reisen in die Region erschienen Christine Zapf - allein als behinderte Frau, ohne Assistenz - unmöglich. Sie nimmt eine Halbtagsstelle in einer Ländervertretung in Bonn an, arbeitet an der Pforte, empfängt und betreut Gäste, erledigt Büroarbeit, fühlt sich wohl dabei. Kurz nach dem Regierungsumzug wechselt sie in eine Bonner Entwicklungshilfeorganisation, die im Austausch von Berlin übersiedelte. Dort wird sie gemobbt: »Das war ganz einfach. Unterlagen und Büroutensilien wurden so abgelegt, dass ich schlecht herankam. Anfangs mussten natürlich einige Sachen anders organisiert werden, damit ich auch damit arbeiten konnte, Ordner und Geräte waren niedriger zu stellen. Da gab es schon einen großen Widerwillen. Als ich dann noch forderte, dass im Büro nicht mehr geraucht würde, fanden die Kolleginnen das völlig überzogen. Dann ging es mit den Schikanen erst richtig los.«

Zapf kämpfte. Einige Jahre hielt sie durch, weil ihr die Arbeit Spaß machte, doch die Auseinandersetzungen machten mürbe. Sie fragte sich, ob sie selbst Schuld an den Anfeindungen hatte. »Aber es war nicht mein Problem. Ich passte einfach nicht ins Bild. Ich war schwerbehindert und hatte trotzdem gute Laune. Ich wurde zur Projektionsfläche für die Probleme anderer.« Christine Zapf bekam psychisch bedingte Schlaf- und Verdauungsprobleme. Schließlich kündigte sie. Die Ein-Euro-Jobs und Praktika danach erfuhr sie als regelmäßige Farce: Niemand wollte sie wirklich einstellen.

Der Contergan-Verband Köln, dem sie viele Jahre angehörte, beschränkte sich lange auf Weihnachtsfeiern, Sommerfeste und Ausflüge. 2008 besuchte ein englischer Contergan-Aktivist deutsche Landesverbände und versuchte, die Betroffenen zu mehr Widerstand zu bewegen. In Großbritannien und in anderen Ländern waren bereits deutlich höhere Renten und Entschädigungen erkämpft worden.

Das Vorbild der anderen und die wachsende Wut darüber, Leistungen und Zahlungen von Krankenkasse und Ämtern erkämpfen zu müssen, machte auch Christine Zapf zur Aktivistin. Sie nahm an Mahnwachen teil, fuhr zu internationalen Treffen. Die Contergan-Rente, deren Höchstsatz von 1150 Euro sie bezieht, machte ihr das möglich, sie darf auf ihren Hartz-IV-Bezug nicht angerechnet werden. Aber sie muss um vieles kämpfen: »Ein automatischer Dosenöffner ist für andere Luxus, für mich ist er ein Hilfsmittel.« Doch der Hilfsmittelkatalog der gesetzlichen Krankenkassen ist nicht am Bedarf Schwerstbehinderter orientiert, ganz zu schweigen von speziell benötigten Leistungen. So braucht sie einmal im Monat eine Fußpflege, weil sie offene Stellen an den Füßen bekommt. »Meine Kasse wollte das einfach nicht verstehen.« Auch die Kassenärztliche Vereinigung stellte sich quer, sah nur ein hygienisches Problem, für das sie nicht zuständig sei. Erst Schreiben von Bundestagspolitikern halfen weiter.

Christine Zapf wurde bewusst, dass vieles an ihrer Situation mit den Entwicklungen zu tun hatte, die der Aufdeckung der Contergan-Schäden folgten: Der Prozess gegen die Hersteller-Firma Grünenthal aus Stolberg bei Aachen wurde 1970 wegen geringer Schuld eingestellt. Ein Vergleich wurde geschlossen und daraufhin die Contergan-Stiftung gegründet. Grünenthal zahlte einmal 100 Millionen Mark ein, damit waren aber weitere Ansprüche an das Unternehmen ausgeschlossen. Folgeschäden mussten nicht mehr berücksichtigt werden. Diese De-facto-Enteignung der Opfer wurde auch dadurch nicht aufgehoben, dass Grünenthal 2009 noch einmal 50 Millionen Euro nachschoss. Nach Ansicht vieler Opfer hat auch die Stiftung, die gestern ihren 40. Jahrestag beging, ihre Interessen nur schlecht vertreten.

Die Contergan-Opfer lernten, mit ihren körperlichen Schäden zu leben, kämpften um jedes Stück Unabhängigkeit. Jetzt werden jedoch gesundheitliche Folgen deutlich. Christine Zapf brachte zwei Knieoperationen hinter sich, hat Schwellungen an den Beinen, die bisher kein Arzt erklären kann. Von der Universität Heidelberg wurde endlich eine Studie über Spätfolgen der Contergan-Schädigungen erstellt. Würden die anerkannt, erhöhten sich die Ansprüche auf Unterstützung deutlich.

Auf der Reha-Messe probierte Zapf kürzlich ein kleines Elektromobil aus. Das würde ihr gute Dienste leisten, da sie nicht mehr weit gehen oder lange stehen kann. Selbst kaufen könnte sie es sich nicht. Und wenn der speziell für sie umgebaute zwölf Jahre alte Golf jetzt kaputt ginge, würde sie als Arbeitslose keinen Ersatz bekommen. Sie weiß, dass es anderen ebenso geht: »Und fahr mal Bus oder Bahn, ohne dich festhalten zu können. Das geht nur mit Assistenz.« Systematisch und subtil werde so die Bewegungsfreiheit Behinderter eingeschränkt. Aber es geht nicht nur um »satt und sauber«, sondern um entgangene Lebensfreude und schmerzhafte Erfahrungen, um verlorene berufliche Möglichkeiten. Eine höhere Rente und Entschädigung wäre für Christine Zapf eine Chance für mehr persönliche Freiheit. Aber nicht das allein: »Wenn ich richtig viel Geld hätte, würde ich einen Anwalt beschäftigen, der Schwerbehinderte bei ihren Kämpfen gegen Jobcenter, Kassen und Behörden unterstützt.«

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